Entflammt
Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Ich schüttelte den Kopf, plötzlichvollkommen erschöpft. Das Adrenalin war verpufft und hatte mich zittrig und leer zurückgelassen.
»Ich kann mich nicht damit auseinandersetzen. Es ist zu viel. Er sollte tot sein. Ich kann nicht bleiben. Ich gehe ins Bett«, sagte ich tonlos und ging an ihnen vorbei auf die Stalltür zu. »Ich werde dir nie vergeben«, rief ich dem Winterkrieger über die Schulter zu.
Er reagierte nicht und die anderen auch nicht. Ich ging allein über den knirschend gefrorenen Rasen zum Haus. Drinnen ließ ich die Stiefel an der Tür stehen und schlich auf Strümpfen nach oben. In meinem Zimmer angekommen, zauberte ich meine Tür zur Sicherheit gleich zweimal zu. Dann fiel ich mit allen Klamotten ins Bett und lag dort, ohne eine Träne zu vergießen.
***
»Nastasja? Zeit zum Aufstehen.«
Ich blinzelte verschlafen. Jemand klopfte an meine Tür. »Nastasja?« Es war Asher.
»Ja? «, rief ich.
»Zeit zum Aufstehen«, wiederholte Asher. »Wenn du dich beeilst, hast du nach dem Melken noch Zeit fürs Frühstück,bevor du zur Arbeit musst.«
Das konnte nicht sein Ernst sein. Mir stand der Mund offen.
Dann wurde mir klar, dass er mich nicht sehen konnte. Also erhob ich mich, ging zur Tür und öffnete sie. Asher stand putzmunter und hellwach vor der Tür. Ich ließ meinen Unterkiefer noch mal herunterklappen. »Es ist doch erst kurz nach sechs! Draußen ist es noch stockdunkel!«
Er lächelte und klopfte mir auf die Schulter. »Ich habe gehört, dass du eine harte Nacht hattest. Aber jetzt warten die Kühe auf dich. Ich glaube, Anne macht Zimtgebäck zum Frühstück. «
Ich starrte ihn nur an. In der letzten Nacht war mir mein gesamtes Universum um die Ohren geflogen. Hunderte von Jahren des Schmerzes und des Todes. Und ich sollte jetzt Kühe melken?
Asher wartete und sah mich gelassen an. Ich erinnerte mich daran, dass seine Familie aus Polen stammte. Sie waren während des Zweiten Weltkriegs dort gewesen.
»Wenn ich Reyn sehe, bringe ich ihn um«, sagte ich. »Ich glaube, Reyn ist früh aufgestanden. Er pflügt den Kohlacker. « Asher kratzte sich den Bart.
Ich blinzelte. Meine Welt war total surreal. Aber das hier war die Realität. So schmerzhaft und schrecklich sie auch war, es war die Realität. Ich zog meine Schuhe an.
***
Unfassbarerweise fuhr ich an diesem Tag tatsächlich zur Arbeit und war ehrlich gesagt froh, etwas zu tun zu haben. OldMac und ich grunzten einander zu und begannen mit unserem Tagwerk. In MacIntyres Drugstore die Regale aufzufüllenwar nicht gerade mit der Akkordarbeit in einer Fabrik zu vergleichen, wo man herumhechtete und alle zwölf Sekundenunter Hochdruck irgendeine Schraube maschinell festzog. Trotzdem zwang ich mich dazu, genau auf das zu achten, was ich machte, auch wenn ich nur Kartons mit Sportbandagen und Kühlpackungen auspackte. Jetzt, wo ich wusste, wo alles stand (und die Regale mittlerweile gut sortiert waren), ging das Auffüllen viel schneller.
Ich sah mich im Laden um und versuchte, mich nur aufs Hier und Jetzt zu konzentrieren. Das Geschäft sah deutlich besser aus - sauberer, heller und wie gesagt, auch sinnvoller eingerichtet. Aber ich machte mir nichts vor, der Laden war total vergammelt. Die Wände hatten Wasserflecke und Unmengen alter Nagellöcher, die Beleuchtung war schon fast antik und das Linoleum auf dem Boden so alt, dass sich durch jeden Gang in der Mitte eine dünn getretene Bahn zog.
»Was machen Sie da?«, brüllte Old Mac mich an und ich machte vor Schreck einen Satz. »Ich bezahle Sie nicht dafür,dass Sie rumstehen und vor sich hinträumen!« Er stand drei Meter entfernt. Seine buschigen schwarzen Augenbrauenbildeten ein gereiztes V über seinen Augen.
»Sie sollten mehr homöopathisches Zeug bestellen«, erwiderte ich. Nach der vergangenen Nacht musste Old Mac schon schwerere Geschütze auffahren, wenn er mich schocken wollte. »Und ein paar Handschuhe oder so was. Einen kleinen Ständer mit verschiedenen Handschuhen. Und in der Ecke da vorn ist noch Platz für ein paar Säcke Streusalz, das Zeug, das die Leute auf den Bürgersteig streuen, damit sie sich nicht umbringen.«
Er starrte mich an, als spräche ich mit fremden Zungen. Ich nahm einen der tausend Drugstore-Lieferkataloge in die Hand, die jede Woche kamen. »Sehen Sie sich den ganzen Kram an! Das kaufen die Leute heutzutage, sogar hier
Weitere Kostenlose Bücher