Esswood House
Rasiermesserschnitt an seinem Adamsapfel druckte ein Sternbild roter Pünktchen auf seinen Hemdkragen, als er an den Fenstern vorüberging. Er verdrehte den Hals, damit er zu den Fenstern der Seneschals sehen konnte, hinterließ einen besonders großen Fleck auf der Innenseite seines Kragens und bildete sich ein, er könnte einen kleinen Jungen mit engelsgleichem Gesicht sehen, der zu ihm herüberschaute. Sie hatten ihn gesehen, Isobel und ihr Liebhaber, aber er konnte ihn nicht sehen, es sei denn, er sah mit Isobels Augen - und dann konnte er mit der Klarheit eines Traums einen dunkelhaarigen, etwa zehn- bis zwölfjährigen Jungen erkennen, der sich auf der anderen Seite an das Glas lehnte. Der Junge folgte ihm in einer Art und Weise, die anfangs wie zufällig zu sein schien, in Wahrheit jedoch von einer elektrischen Konzentration aufgeladen war. Das hatten sie gesehen, als sie durch die innere Galerie gingen. Die scheinbare Trägheit, die tatsächliche Gier, die offenkundig deutliche Distanz, die zugrundeliegende Sondierung. Es ist besser, Esswood nie zu verlassen - so machten sie das hier, sie warfen diese gazeartige kleinen Spinnweben auf einen und beobachteten dann, ob man sie einfach fortwischte oder versuchte, das Muster darin zu entdecken, bevor sie zu Boden fielen. Oh, 1914 zehn Jahre alt, ja? Und wollen Sie andeuten, Mr. Robert Wall, daß Ihr generelles Erscheinungsbild mit sechsundachtzig Jahren einer der Gründe ist, warum es besser ist, Esswood nie zu verlassen?
Standish betrat das dunkle Arbeitszimmer, wo Ediths Ehemann das Zimmermädchen oder die Stallburschen bestiegen hatte, oder wen er auch immer flachgelegt haben mochte, sah im Geiste die Augen der Frau, die mit ihrem toten Baby in sein Zimmer gekommen war, und stellte sich vor, wie sie ihn in die Arme nahm, in ihre heiße, steinerne Umarmung quetschte, die ganze Verzweiflung, die ganze Verbitterung, die in eine romantische Gußform strömte und überlief.
Er rannte die Treppe hinunter und sah alles, wie es vor siebzig Jahren gewesen war. Diese alten Männer hier waren zwei Generationen näher dran, und was sich unter ihren Blicken abspielte, das war bewußter Spott. Frühere Seneschals hatten ruhig gelebt, ihre Toten begraben, die Bibliothek erweitert und ihre Kranken verborgen. Durch Isobels Augen sah Standish den Aufruhr, durch den Edith die alte, beschirmte Ordnung verdrängt hatte. Imaginäre Menschenmassen fläzten sich auf dem Mobiliar, redeten unablässig, plünderten den Weinkeller und fraßen die Küche leer. Sie beschmutzten die Laken und zerknitterten die Teppiche und füllten jedes Zimmer mit einem geschmacklosen Durcheinander von Lärm, Rauch und Farben. Schnatternde, anmaßende Gespenster - beseelt von unechtem, versehentlichem, lediglich biologischem »Leben«; einige davon waren krank, einige husteten immer wieder hinter vorgehaltener Hand, einige hatten heimliche Killer im Rückenmark oder in den Adern, einige waren so betrunken wie Jeremy Starger, einige so kleinkariert wie Chester Ridgeley, einige waren Männer, die den Frauen ständig an den Busen grapschten, einige Frauen, die ständig auf die Hosenschlitze der Männer schielten, die insgeheim anfaßten, anfaßten, wie Jean Standish auf der anderen Seite eines der oberen Fenster in Popham, Blut, Schweiß und Sperma flossen allesamt ineinander, wenn sie sich heimlich trafen und sich bissen und schlugen und leckten. Im Ostsaal sah er sie paarweise zusammenstehen, die Hände ineinander haken, die Lippen in ihrer endlosen hochtrabenden Konversation bewegen und nicht im Traum ahnen, was hinter den Wänden von ihnen träumte und wartete.
Sie wurden auserwählt, sagte Robert Wall.
Draußen keuchte Standish in der plötzlichen Hitze, als er die Treppe hinunterlief. Seine Kleidung fühlte sich heiß, klamm und beengend an, daher riß er sich das Tweedjackett von den Schultern und warf es weg, als er die unterste Stufe erreicht hatte. Standish lief auf dem Schotter zur Seite des Hauses und duckte sich unter den überwucherten Laubengang.
Ein heißer, allgegenwärtiger Geruch, deutlich sexuell gefärbt, hüllte Standish ein, als er unter dem Laubengang dahinlief. Hinter den ineinander verwobenen grünen Wänden und der Decke, deren Ritzen und Öffnungen mit goldenem Licht bemalt waren, ertönte ein konstantes, intensives, lebendiges Summgeräusch, wie von einem Bienenstock. Standish stürmte unter dem Laubengang hervor und rechnete damit, daß er einen Schwarm Bienen oder Fliegen
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