Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
füllen. In der Wärme der unterirdischen Höhle, wo Boots sich mit ihren Welpen häuslich eingerichtet hatte, dürfte er schnell schmelzen.
Das vom Schnee reflektierte Sternenlicht war hell genug, um zu sehen, wo sie hintrat. Arkady hörte etwas entfernt Wasser plätschern und folgte dem unerwarteten Geräusch. Auf Füßen, die eigentlich gar nirgends mehr hingehen wollten, stapfte sie so gut es ging durch das Unterholz in Richtung Seeufer.
Dort angekommen, blieb Arkady wie angewurzelt einen Schritt vor dem Schilfgürtel stehen, der sich direkt am Ufer erstreckte, und starrte fassungslos auf das Wasser hinaus. Noch vor ein paar Stunden war da eine feste Eisdecke gewesen, die sich bis ganz nach Glaeba hinüber erstreckte. Nun war sie fort. Nur unzählige kleine Stückchen Eis trieben noch auf dem See und schmolzen bereits.
Das dunkle Wasser erstreckte sich vor ihr wie ein schwarzer Himmel, gesprenkelt mit Sternen aus Eis. Leise plätscherte es gegen das Schilf am Ufer, ein seltsam harmloses Geräusch, und das so kurz, nachdem gewaltige Kräfte die dicke Eisdecke zum Bersten gebracht haben mussten.
Arkady stand am Ufer und versuchte zu begreifen, was für Kräfte solch ein Wunder bewirkt haben konnten. Gezeitenmagie hatte sie schon früher gesehen. Sie war dabei gewesen, als Cayal und Declan die Vertreter der senestrischen Handelshäuser aus den Sümpfen vertrieben hatten. Sie hatte gesehen, wie Crasii geheilt wurden und Gliedmaßen nachwuchsen, und sie war sogar selbst von Declan im letzten Augenblick wiederbelebt worden, nachdem die Chamäliden von Wasserscheid sie zum Tode verurteilt und an den Baum der Gerechtigkeit gefesselt hatten, um bei lebendigem Leib von Gobie-Ameisen gefressen zu werden.
Aber bis jetzt hatte Arkady sich nie vollständig klargemacht, was es hieß, wenn jemand die Macht besaß, die Welt in Stücke zu brechen. Dies war das Ergebnis der Fähigkeit, die Elemente unmittelbar zu beeinflussen.
Sie versuchte immer noch, das zu verinnerlichen, als ihr etwas auffiel. Zwischen den schmelzenden Eisstücken im Wasser schaukelten dunkle Gegenstände auf und ab. Das Wasser war praktisch gesprenkelt mit solchen dunklen Flecken, Hunderten, vielleicht sogar Tausenden. Das regelmäßige Plätschern am Ufer verstummte für einen Augenblick. Arkady sah nach rechts und erkannte, dass nur ein paar Armlängen entfernt von ihr etwas an Land gespült worden war. Sie kämpfte sich durchs Schilf, um nachzusehen, und entdeckte zu ihrem Entsetzen, dass eine durchweichte tote Felide am Ufer angetrieben war.
Arkady ging neben der Leiche in die Hocke und drehte sie um. Sie kannte die Felide nicht, konnte nicht einmal sagen, ob sie für Glaeba oder Caelum gekämpft hatte. Ihr Fell war stellenweise verbrannt, andere Anzeichen für Verletzungen gab es nicht. Wahrscheinlich war sie ertrunken oder im eisigen Wasser erfroren, weil sie es nicht mehr rechtzeitig ans Ufer geschafft hatte.
Arkadys Gedanken überschlugen sich. Sie richtete sich wieder auf und sah auf den See hinaus. Jetzt wusste sie, was die schaukelnden dunklen Punkte im Wasser waren.
Es waren Crasii. Zehntausende von ihnen. Tot, weil ein Unsterblicher mit seinem magischen Arm gewinkt und entschieden hatte, dass sie alle krepieren sollten, eine zweitrangige Begleiterscheinung der Kriege, die die Gezeitenfürsten gegeneinander führten.
Gezeiten … Papa war bei Jaxyn draußen auf dem Eis …
Arkady konnte nicht weinen. Sie war zu erschöpft, um erneut solchen Kummer zu empfinden wie bisher jedes Mal, wenn sie geglaubt hatte, ihn verloren zu haben. Dass ihr Vater diesmal wirklich tot war, war irgendwie kein richtiger Schock, es fühlte sich eher unvermeidlich an. Und sein Beharren darauf, zurückzubleiben, wirkte im Nachhinein fast prophetisch.
Arkady hasste sich dafür, dass sie insgeheim sogar Erleichterung empfand, denn nun konnte ihr Vater nicht länger als Waffe gegen sie eingesetzt werden, um sie zu erpressen.
Es tut mir so leid, Papa, was du meinetwegen alles durchgemacht hast.
Das war das Beste, was Arkady an Worten in sich fand, die einem Gebet nahekamen.
Und auch der passendste Nachruf, der ihr einfiel.
Zu sehen, wie die Welt sich mit dem Aufstieg der Gezeitenfürsten veränderte, bereitete ihr Übelkeit. Langsam drehte Arkady sich um und ging zu den Ruinen zurück. Die tote Felide ließ sie liegen, wo sie war. Hoffentlich wurde die Leiche ihres Vaters an einem Ort angespült, wo man sie mit mehr Respekt behandeln konnte als die der
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