Feinde der Zeit: Roman (German Edition)
sie langsam, als hätte ich sie völlig aus dem Konzept gebracht. »Vielleicht ist es meine Schuld. Alle meine Tarnungen in der letzten Zeit hatten eher etwas Abweisendes. Ich könnte mir etwas Weicheres, Verführerischeres ausdenken.«
Ich schüttelte spontan den Kopf. Eine verführerische Stewart, die mir den Kopf verdrehte, war das Letzte, was ich brauchte. Am liebsten wäre ich sofort gegangen; es war ein großer Fehler, dass ich mitgekommen war. Aber dann fiel mir wieder ein, wie sehr ich mir noch wenige Stunden zuvor gewünscht hatte, Adam anzurufen. Und dieser Wunsch war seitdem nicht kleiner geworden. Bleib hier, lenk dich ein bisschen ab. »Warum versuchst du nicht zur Abwechslung mal, mir was zu erzählen, das der Wahrheit entspricht? Ganz ohne einstudierte Rollen?«
»Ich hasse Bohnen.« Sie ging in die Küche und kam kurz darauf mit einer Flasche Wodka, Orangensaft und zwei Gläsern zurück. »Geheimnis Nummer zwei: Ich bin wesentlich ehrlicher, wenn ich betrunken bin. Und bislang bin ich noch ziemlich nüchtern.«
Sie stellte die Flasche und die Gläser auf den Couchtisch, und wir setzten uns in die entgegengesetzten Sofaecken. Sie nickte in Richtung des Tisches – eine Aufforderung. Ich zögerte. Es war sehr lange her, dass ich harte Sachen getrunken hatte, und ich hatte sogar darauf geachtet, nicht zu viel Bier zu trinken, da unser Ausbildungsprogramm uns einiges abgefordert hatte. Der Kontrollverlust nach zu viel Alkohol machte mir Angst. Jedenfalls in diesem Moment.
Stewart sah mir sehr genau zu, während ich uns einschenkte und dann einen großen Schluck aus meinem Glas trank. Sie tat dasselbe und verzog beim Schlucken das Gesicht.
»Meine Eltern haben mich rausgeworfen, als ich sechzehn war«, sagte sie und schaute dabei auf ihre Hände. »Sie haben mich gezwungen, früh aufs College zu gehen.«
»Und wo bist du aufs College gegangen?«
»Columbia, und dann NYU.« Sie nahm einen noch größeren Schluck. »Ich hab zwei Jahre durchgehalten, dann wurde ich verhaftet und ins Gefängnis geworfen.«
Ich stöhnte und rieb mir die müden Augen. Jetzt musste ich mich betrinken, um ihren Schwachsinn ertragen zu können. »Oh, ich glaube, diese Tarngeschichte kenne ich noch gar nicht. Ist die so ähnlich wie die von dem Mädchen aus dem Ghetto?«
»Du bist so ein Wichser. Du würdest die Wahrheit nicht mal erkennen, wenn sie dir ins Gesicht springen würde«, giftete sie zurück. »Ich hab mir an beiden Colleges zusätzliche Identitäten zugelegt. Und dann hab ich mich ins Computersystem eingehackt und dafür gesorgt, dass die anderen Versionen von mir ebenfalls Stipendien bekamen. Das verstößt aber wohl gegen Bundesgesetze, und da ich achtzehn war –«
»Bist du in den Knast gewandert«, beendete ich ihren Satz. »Von wie vielen Identitäten reden wir denn?«
»Zehn.« Sie lachte, als sie meine Miene sah. »Ich hab alles richtig gemacht. Ich hab alle ihre Kurse besucht und mich auch einigen Gruppen auf dem Campus angeschlossen. Aber ein kleiner Fehler, und das FBI kam mir auf die Spur. Danach ging alles sehr schnell. Meine Eltern haben auf keinen meiner Anrufe reagiert, und ich wurde zur Rechenschaft gezogen und in ein Frauengefängnis in Virginia geworfen. Nach zwei Monaten lernte ich dann deinen Dad kennen.«
Ich merkte auf. »Du hast im Knast meinen Dad kennengelernt?«
»Er kam mich besuchen und meinte, ich hätte da ja eine ganz schön starke Nummer durchgezogen. Dann hat er mir angeboten, mich rauszuholen, wenn ich mich bereit erkläre, Agentin zu werden. Aber die Sache hatte einen Haken.«
»Und zwar?«
Sie leerte ihr Glas und ließ sich tiefer ins Sofa sinken. »Ich musste einen anderen Namen annehmen und überhaupt alles ändern. Ich darf keinen Kontakt mehr zu meiner Familie haben. Nie mehr. Da hab ich nicht lange überlegt. Das war bestimmt auch der Grund, warum Marshall mich erst mal zwei Monate im Gefängnis hat schmoren lassen. Er hatte mich garantiert schon auf dem Schirm, bevor ich überhaupt erwischt wurde.«
»Ja, darauf wette ich.«
Ich hatte keine Ahnung, ob sie mir wirklich die Wahrheit sagte, aber auf ihre eigene unglaubliche Art ergab diese Geschichte durchaus Sinn. Sie erklärte, warum sie so jung in den Geheimdienst eingetreten war. Aber dass sie ein Freak war und sich schon die meiste Zeit ihres Lebens für jemand anderen ausgab, irritierte mich doch etwas. Vor allem, dass sie schon undercover gewesen war, bevor sie es musste, bevor es Teil ihres Jobs geworden
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