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Filmriss

Filmriss

Titel: Filmriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Buettner
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Anfang ist.
    Ich soll rausgehen und frische Luft schnappen.
    »Das wird dir guttun«, sagt mein Vater.
    Ich bezweifle das, gehe aber trotzdem. Der Sauerstoff erscheint mir wie ein Gift, das unaufhaltsam in meine Lunge strömt. »Mehr tot als lebendig« ist in diesem Fall ganz ernst gemeint. Und über die Frage, ob einem Toten überhaupt irgendetwas guttun kann, zerbreche ich mir lieber ein anderes Mal den Kopf.
    Warum ich schnurstracks zum Strand laufe, weiß ich in diesem Moment selbst nicht. Das Wetter ist wie eine Wand ohne Farbe. Nicht warm, nicht kalt, nicht dunkel, nicht hell, es ist einfach nichts. Es existiert nur, weil immer irgendein Wetter existiert. Und ich selbst bin genau wie dieses Wetter. Ich bin einfach nur da, ohne irgendetwas zu sein.
    Erst als ich vor der Hütte stehe, fällt mir wieder ein, dass ich hier mit Marlon verabredet bin. Und wenn mir gerade überhaupt irgendjemand wichtig ist auf dieser Scheißwelt, dann ist er es.
    Friedas Tagebuch
    Letzte Nacht habe ich geträumt, dass ich im Dunkeln ins Watt gehe. Plötzlich wird der feste Schlick unter meinen Füßen weich wie Kartoffelbrei und ich sacke ein, mit jedem Schritt tiefer. Ich schreie um Hilfe und Dad kommt angerannt. Er streckt mir die Hand hin, aber ich kann sie nicht greifen, er ist zu weit weg. Mum kommt dazu, aber auch sie kann nichts tun. Inzwischen stecke ich schon bis zur Hüfte im Morast. Die beiden sehen hilflos zu, sie wissen einfach nicht, was sie tun sollen. Mit hängenden Köpfen gehen sie weiter, als ob ich schon tot wäre. Sie gehen in verschiedene Richtungen, er nach links, sie nach rechts. Meine Schreie hören sie nicht mehr. Nur mein Kopf schaut noch raus. Hinten am Strand sehe ich Marlon, der offenbar spazieren geht. Er bewegt die Lippen, als ob er singen würde, aber ich kann ihn nicht hören. Ich will ihn rufen, aber vor Kraftlosigkeit krieg ich kein Wort raus. Im nächsten Moment bin ich vollständig versunken. Natürlich will ich wieder raus, verlier aber die Orientierung und weiß ganz schnell nicht mehr, wo oben und wo unten ist. Überall nur dieser eklige Brei, der stinkt und jetzt auch in meinen Mund fließt, sodass ich ihn trinken muss.
    Ich weiß jetzt genau, dass ich so feststecken werde, bis ich tot bin. Ich kann mich überhaupt nicht bewegen, alles ist voll von diesem Zeug, ich krieg keine Luft mehr. Aber ich sterbe noch nicht, obwohl ich weiß, dass es das Beste wäre ...
    In diesem Moment wachte ich auf, schweißgebadet und total panisch. Manchmal glaube ich, das Einzige, auf das ich mich überhaupt noch verlassen kann, ist die Tatsache, dass Alkohol besoffen macht. Wenigstens etwas!
    Marlon ist allein in der Hütte. Er klimpert auf seiner Gitarre rum, scheint tief versunken in seine Gedanken. Es dauert eine Weile, bis er meine Anwesenheit überhaupt registriert.
    »Du siehst nicht besonders gut aus«, sagt er.
    »Danke, tolles Kompliment. Ehrlich gesagt fühl ich mich noch viel schlimmer.«
    »Komm her!« Er stellt die Gitarre zur Seite, wartet auf mich, lächelt ein ganz kleines bisschen.
    Ich gehe langsam zu ihm, setz mich dann auf seinen Schoß und lege die Arme um seinen Hals.
    »Ich trink nie wieder«, sag ich und blöderweise schießen mir dabei schon wieder Tränen in die Augen. Zum Glück sieht Marlon es nicht. »Halt mich mal ganz fest, ja?«
    Er nimmt mich tröstend in den Arm. Ich spüre sein Lächeln.
    »Noch fester. Es geht mir so beschissen.«
    Ohne dass ich es ändern könnte, fang ich nun richtig an zu heulen. Marlon wiegt mich sanft hin und her, wie ein Erwachsener es bei einem kleinen Kind macht. Eigentlich finde ich das albern, aber in diesem Moment ist es genau das, was ich brauche. Vielleicht hab ich mich Marlon noch nie so nahe gefühlt wie jetzt. Warum ist es nicht immer so zwischen uns?, denke ich. Warum nicht?
    »Wir lassen beide das blöde Saufen sein«, sagt Marlon leise, als hätte er meine Gedanken gehört.
    »Okay«, sage ich und schau ihn an.
    Nun ist es mir egal, ob er sieht, dass ich weine. Zärtlich wischt er mir mit der Spitze des kleinen Fingers ein paar Tränen aus dem Gesicht. Dann küssen wir uns. Es ist der schönste Kuss, den man sich vorstellen kann. Es ist, als würden wir für eine Sekunde zu einem einzigen Menschen verschmelzen.
    »Wollen wir uns das versprechen?«, flüstere ich in sein Ohr.
    Noch ehe er mir antworten kann, fliegt plötzlich die Tür auf und Karsten kommt schwer beladen in den Raum getrampelt. Der ist nun so ziemlich der Allerletzte, den

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