Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
Vom Netzwerk:
nicht den ganzen Tag darüber lustig machen, wie unmöglich es ist, überhaupt
etwas auf die Beine zu stellen.»
    Boff!
    Jessicas
Augen huschten musternd vom einen zum anderen. Walter hatte bei näherem
Hinsehen schreckliche Ringe unter den Augen, und seine Finger veranstalteten
auf der Tischplatte etwas zwischen Zittern und Trommeln. Lalitha wirkte
ebenfalls ein bisschen mitgenommen, das Gesicht bläulich und, obwohl dunkelhäutig,
blass. Katz beobachtete das Verhältnis ihrer Körper zueinander, ihr
geflissentliches Auseinanderstreben, und fragte sich, ob die Chemie ihr Werk
wohl schon vollendet hatte. Sie schauten verdrossen und schuldig drein wie
Liebende, die sich in der Öffentlichkeit benehmen müssen. Oder, umgekehrt, wie
Leute, die sich noch auf nichts geeinigt hatten und wegen einander unglücklich
waren. Wie auch immer, die Situation verdiente sorgfältige Observation.
    «Dann
beginnen wir jetzt mit dem Problem», sagte Walter. «Das Problem ist, dass
niemand es wagt, die Überbevölkerung zum Bestandteil des landesweiten
Diskurses zu machen. Und warum nicht? Weil das Thema alle runterzieht. Weil es
wie von gestern wirkt. Weil wir, wie bei der Erderwärmung, noch nicht ganz den
Punkt erreicht haben, wo die Folgen unbestreitbar werden. Und weil wir elitär
wirken, wenn wir den Armen und Ungebildeten sagen, sie sollen nicht so viele
Kinder kriegen. Eine große Familie zu haben steht in einem umgekehrten
Verhältnis zum wirtschaftlichen Status, ebenso das Alter, in dem Mädchen ihre
ersten Kinder bekommen, was aus etlichen Perspektiven genauso schädlich ist.
Man kann die Wachstumsrate allein schon dadurch halbieren, dass man das
Durchschnittsalter der Erstgebärenden von achtzehn auf fünfunddreißig
verdoppelt. Das ist einer der Gründe, warum Ratten sich so viel mehr als
Leoparden vermehren - weil sie so viel früher geschlechtsreif werden.»
    «Allein
schon in der Analogie steckt natürlich ein Problem», sagte Katz.
    «Genau», sagte
Walter. «Das ist wieder diese Elite-Kiste. Leoparden sind eine
Art als Ratten oder Kaninchen. Ein weiterer Aspekt also des Problems: Wir
machen arme Leute zu Nagern, wenn wir die Aufmerksamkeit auf ihre hohe
Geburtenrate und ihr niedriges Alter bei der ersten Fortpflanzung lenken.»
    «Ich
finde, dass an der Zigarettenanalogie was dran ist», sagte Jessica vom Ende des
Tischs. Es war deutlich, dass sie auf ein teures College gegangen war und
gelernt hatte, sich in Seminaren einzubringen. «Leute mit Geld können sich
Zoloft und Xanax besorgen.
Wenn man also Zigaretten besteuert und auch noch Alkohol, trifft man die Armen
am härtesten. Man verteuert die billigen Drogen.»
    «Stimmt»,
sagte Walter. «Das ist ein sehr gutes Argument. Und trifft auch auf die
Religion zu, die ebenfalls eine wichtige Droge für Leute mit begrenzten
wirtschaftlichen Möglichkeiten ist. Wenn wir an der Religion herumkritteln, in
der wir ja nun mal den eigentlichen Schurken sehen, kritteln wir an den
wirtschaftlich Unterdrückten herum.»
    «Und
genauso Waffen», sagte Jessica. «Jagen ist auch sehr prollig.»
    «Ha, sag
das mal Mr. Häven», sagte Lalitha mit ihrem abgehackten Akzent. «Sag das mal
Dick Cheney.»
    «Nein, an
und für sich hat Jessica recht», sagte Walter.
    Lalitha
wandte sich zu ihm. «Tatsächlich? Das kapiere ich nicht. Was hat Jagen mit
Überbevölkerung zu tun?»
    Jessica
verdrehte ungeduldig die Augen.
    Das wird
noch ein langer Tag, dachte Katz.
    «Es kreist
doch alles um dasselbe Problem der persönlichen Freiheiten», sagte Walter.
«Die Leute sind entweder wegen des Geldes oder der Freiheit in dieses Land
gekommen. Hat man kein Geld, klammert man sich desto grimmiger an seine
Freiheiten. Selbst wenn das Rauchen einen umbringt, selbst wenn man es sich
nicht leisten kann, seine Kinder zu ernähren, selbst wenn diese Kinder von
Irren mit Sturmgewehren erschossen werden. Man mag arm sein, aber das eine, das
einem keiner nehmen kann, ist die Freiheit, sich das eigene Leben zu versauen,
wie man will. Das hat Bill Clinton erkannt - dass sich keine Wahl gewinnen
lässt, wenn man gegen persönliche Freiheiten vorgeht. Oder gar gegen Waffen.»
    Dass
Lalitha unterwürfig nickte, statt zu schmollen, machte die Lage klarer. Sie
bettelte noch immer, und Walter verweigerte sich weiterhin. Und er war in
seinem natürlichen Element, seiner persönlichen Festung, sobald man ihn
abstrahierend sprechen ließ. Seit den Jahren am Macalester hatte er sich kein
bisschen

Weitere Kostenlose Bücher