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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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gekünsteltes Kichern von sich. Offenbar war ihr entfallen, dass Patty
vorbeigekommen war, um über ihre Abendessenverabredung ausgefragt zu werden.
Alles drehte sich um Carter, einen Freund aus einer ihrer Schulen, der sich im
Moment eine Auszeit vom College gönnte, in einem Buchladen arbeitete und auf
Konzerte ging. Carter hatte extrem glattes und interessant getöntes dunkles Haar
(Henna, wie sich herausstellte), wunderschöne Augen mit langen Wimpern (Mascara, wie sich herausstellte) und keine auffallenden körperlichen Mängel,
abgesehen von seinen Zähnen, die nicht nur krumm und schief, sondern auch
merkwürdig klein und spitz waren (eine mittelschichttypische
Kindergrundversorgung wie die Kieferorthopädie war durch den Rost der
unerfreulichen Scheidung seiner Eltern gefallen, wie sich herausstellte). Patty
fand es sofort sympathisch, dass seine Zähne ihn nicht weiter zu kümmern schienen.
Kaum hatte sie sich vorgenommen, einen guten Eindruck auf ihn zu machen und zu
beweisen, dass sie Elizas Freundschaft
würdig war, da streckte diese ihr ein riesiges bauchiges Glas Wein entgegen.
    «Nein,
danke», sagte Patty.
    «Aber
heute ist Samstag», sagte Eliza.
    Patty
hätte sie gern darauf hingewiesen, dass die Regeln sie keineswegs dazu verpflichteten, samstags zu trinken, aber in Carters Gegenwart sah sie für einen
Moment ganz deutlich, wie eigenartig sich Elizas Regeln ausnahmen, ja wie eigenartig es auch war, dass sie Eliza über
ihr Abendessen mit dem Ringer Bericht erstatten sollte. Und so schwenkte sie um
und trank den Wein und danach noch ein zweites enormes Glas voll und fühlte
sich gewärmt und fabelhaft. Die Autobiographin weiß durchaus, wie langweilig es
ist, vom Alkoholkonsum eines anderen zu lesen, aber mitunter ist er für den
Fortgang einer Geschichte entscheidend. Als Carter gegen Mitternacht aufbrach,
bot er Patty an, sie in seinem Auto mitzunehmen, und vor der Tür ihres
Wohnheims fragte er, ob er ihr einen Gutenachtkuss geben dürfe («Ist schon in
Ordnung», dachte sie ganz ausdrücklich, «er ist ja ein Freund von Eliza»), und
nachdem sie eine Weile in der kalten Oktoberluft gestanden und rumgemacht
hatten, fragte er noch, ob sie sich am nächsten Tag wiedersehen könnten, und
sie dachte: «Mann, hat der es aber eilig.»
    Ehre, wem
Ehre gebührt: In sportlicher Hinsicht war dieser Winter die beste Saison ihres
Lebens. Sie hatte keine gesundheitlichen Probleme, und nach einer strengen
Belehrung darüber, dass sie sich weniger selbstlos und dafür führungsstärker
geben müsse, setzte Trainerin Treadwell sie immer von Anfang an als
Spielmacherin ein. Patty war selbst verblüfft, wie zeitlupenlangsam die
größeren gegnerischen Spielerinnen plötzlich wirkten, wie einfach es war, den
Arm auszustrecken und ihnen den Ball abzunehmen, und mit wie vielen ihrer
Distanzwürfe sie Treffer erzielte, Spiel um Spiel. Auch wenn ihr zwei
Verteidigerinnen zugeteilt wurden, was jetzt immer häufiger geschah, spürte sie
einen besonderen, persönlichen Draht zum Korb, wusste immer genau, wo er war,
und vertraute darauf, seine Lieblingsspielerin zu sein, diejenige, die sein
kreisförmiges Maul am besten zu füttern verstand. Selbst außerhalb des Spielfelds
war sie in ständiger Wettkampfbereitschaft, das merkte sie an einem alles
andere ausblendenden Druck hinter den Augenbrauen, einer wachsamen
Schläfrigkeit oder konzentrierten Taubheit, die immer da war, egal, was sie
tat. Sie schlief den ganzen Winter über herrlich und wachte nie ganz auf.
Selbst wenn sie einen Ellbogen an den Kopf bekam oder beim Schlusspfiff von
glücklichen Mannschaftskameradinnen bestürmt wurde, spürte sie es kaum.
    Und ihre
Geschichte mit Carter war ein Teil davon. Carter interessierte sich kein
bisschen für Sport, und es machte ihm offenbar nichts aus, dass sie zu
Spitzenzeiten unter dem Strich nicht mehr als ein paar Stunden in der Woche für
ihn erübrigen konnte, sodass es manchmal gerade dafür reichte, in seiner
Wohnung mit ihm zu schlafen und dann sofort zum Campus zurückzulaufen. In
gewisser Hinsicht erscheint der Autobiographin diese Beziehung noch heute als
ideal, wenn auch zugegebenermaßen weniger ideal, sobald sie sich realistisch
einzuschätzen erlaubt, mit wie vielen anderen Mädchen Carter während der sechs
Monate, in denen Patty ihn als ihren festen Freund ansah, schlief. Diese sechs
Monate waren die erste von zwei unbestreitbar glücklichen Phasen in Pattys Leben, in denen alles lief wie geschmiert. Sie

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