Franzosenliebchen
Haushalt hatte helfen müssen,
ehe sie die Erlaubnis bekam, das elterliche Haus zu verlassen. Als
sie die Ruine dann endlich erreichte, hätten nur wenige Meter
vom Eingang entfernt zwei Nachbarinnen ein intensives Gespräch
geführt.
Goldstein nickte. Er
hatte Wortfetzen dieser Unterhaltung vernommen. Angesichts der
neugierigen Blicke der beiden Frauen war Lisbeth weiter Richtung
Bahnhof gelaufen und hatte dort eine halbe Stunde gewartet. Erst
jetzt war sie zum Treffpunkt zurückgekehrt.
Goldstein
lächelte beruhigend. »Das hast du sehr gut gemacht. Es
ist besser für uns beide, wenn niemand von unserem Treffen
weiß.«
In der Zwischenzeit
hatte der Polizist Zeit genug gehabt, zu überlegen, welche
Fragen ihm am dringlichsten erschienen.
»Deine Schwester
hatte ein Kettchen getragen. Kannst du mir beschreiben, wie es
aussieht? Oder gibt es zufällig eine Fotografie von Agnes, auf
der sie die Kette trägt?«
Das Mädchen
schüttelte den Kopf. »Wir haben beide die gleiche Kette
zur Kommunion geschenkt bekommen. Sie sind aus Gold und daran
hängt ein kleines Medaillon, das im Inneren das Hochzeitsfoto
unserer Eltern zeigt.«
Eine Kette mit einem
Medaillon. Plötzlich wurde Goldstein klar, dass Lisbeth im
Plural gesprochen hatte. »Du besitzt die gleiche
Kette?«
»Natürlich.
Agnes und ich tragen sie immer.«
»Zeigst du sie
mir?«
Lisbeth dachte einen
Moment nach. »Ja. Aber ich trage sie unter der Bluse. Ich
muss den obersten Knopf lösen, um sie abnehmen können.
Bitte drehen Sie sich um. Und nicht gucken.«
Goldstein tat, wie
geheißen, musste aber schmunzeln. In Berlin tanzten junge
Frauen, die nur unwesentlich älter als Lisbeth waren, nackt
vor Dutzenden gieriger Männeraugen und hier in der
westfälischen Provinz waren die Mädchen zu scheu, einen
Knopf zu öffnen, ohne dass ein Mann dabei zusah.
»Sie können
sich wieder umdrehen.« Lisbeth hielt ihm, wieder schicklich
gekleidet, das Kettchen entgegen. »Hier ist
sie.«
Goldstein musterte das
Schmuckstück genau, öffnete das Medaillon, prägte
sich das Foto ein. Dann gab er die Kette zurück. »Danke.
Hast du das Tagebuch deiner Schwester
mitgebracht?«
Lisbeth griff in ihre
Umhängetasche, zog ein fast quadratisches Buch mit einer
Seitenlänge von etwa zwanzig Zentimetern hervor und hielt es
Goldstein hin. »Hier.«
Der Polizist nahm das
Buch genauer in Augenschein. Es hatte einen Stoffbezug und war mit
einem Gurt und einem Verschluss gesichert. Vorsichtig drückte
er den kleinen Hebel, um das Schloss zu öffnen.
Vergeblich.
»Hast du den
Schlüssel?«, fragte er Lisbeth, indem er ihr das Buch
zurückgab.
Das Mädchen zog
einen kleinen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn in das
Schloss. Mit einem fast unhörbaren Kläcken sprang es auf.
Sie reichte das Tagebuch Goldstein. Gespannt klappte der Polizist
die erste Seite auf.
Die erste Eintragung
stammte vom 1. Januar dieses Jahres. »Seit wann hat deine
Schwester Tagebuch geführt?«, erkundigte er
sich.
»Das hier ist
das erste.«
Goldstein begann zu
lesen. Die erste Eintragung beschäftigte sich damit, dass
Agnes dem lieben Tagebuch mitteilte, dass sie ab sofort alles darin
festhalten würde, was ihr widerfuhr. Am nächsten Tag
folgte ein längerer Bericht über einen im Grunde
belanglosen Streit mit ihrer Schwester. Schon mit dem dritten Tag
wurden die Einträge kürzer. Und keiner enthielt etwas,
was Goldstein weiterhalf. Bis zum 15. Januar. Goldstein
las:
Montag,
15.1.23
Heute habe ich
einen netten französischen Soldaten kennengelernt. Er stand am
Börniger Bahnhof und hat L und mich vor anzüglichen
Bemerkungen seiner Kameraden in Schutz genommen. Blöde Kerle.
Der Soldat spricht sogar ganz gut Deutsch. Er ist ganz anders, als
alle über die Franzosen sagen.
Richtig
lieb.
Heute Schnee und
Frost.
»Warst du dabei,
als deine Schwester Julian das erste Mal am Bahnhof getroffen
hat?«
Lisbeth
nickte.
Mit dem Buchstaben L
war also Agnes’ Schwester gemeint.
Dienstag,
16.1.23
Vater hat mit mir
geschimpft. Ich solle mich nicht mit den Franzosen abgehen. Woher
weiß er das? Ob L gequatscht hat? Ich muss zukünftig
vorsichtiger sein.
Heute Morgen habe
ich W. am Hemer Bahnhof getroffen. Zufall, sagt er. Ich weiß
nicht, ob das stimmt. Er hat mich bis zum Kaufhaus von AS.
begleitet. Da musste er dann weg.
Gerade habe ich mit
L gesprochen. Sie hat geschworen, dass sie Vater nichts
erzählt hat. Ich glaube ihr. Also hat mich jemand anderer
gesehen. Wer? Vielleicht I, die
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