Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frucht der Sünde

Frucht der Sünde

Titel: Frucht der Sünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
Vom Netzwerk:
Merrily. «Es tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen.»
    «Ich habe es zuerst von der falschen Seite aus angepackt, verstehen Sie? Habe mich nach Sängern umgesehen, als ich nach
ungezähmter Männlichkeit
hätte suchen sollen. Nach Burschen, die es mit ein bisschen Übung schaffen, nicht aus der Kehle, nicht aus dem Bauch, sondern aus, ähem, den Lenden zu singen.»
    «Aha», sagte Merrily. Dermots zweideutige Art ermüdete sie noch mehr. «Also, viel Glück für heute Abend. Ich bin sicher, dass viele Leute kommen werden.»
    Sie ging die Straße hinunter, lief aber an Lucy Devenishs Haus vorbei. Sie wollte nicht, dass er mitbekam, wohin sie unterwegs war. An der Ecke Old Barn Lane drehte sie sich um. Er war weg. Sie kehrte zu Lucys Fachwerkhaus zurück und zog den Schlüssel aus der Tasche. Als sie aufschloss, dröhnte ein Chor ungezähmter Männlichkeit durch ihren Kopf,
Auld Ciderrrrrr
.
    Dermots Chorstück würde wohl so eine Art akustische Erektion werden.
     
    Sie war ein paar Schritte in Lucys Wohnzimmer hineingegangen, als die Tür hinter ihr zufiel. Erschrocken wandte sie sich um, doch da war niemand. Die Stille war sogar angenehm, und Merrily wurde klar, dass sie sich mehr davor gefürchtet hatte, Dermot Child habe sich hinter ihr hereingeschlichen, als vor Lucys Geist. Sie hätte sich sogar gefreut, einer fröhlichen Erscheinung im Poncho zu begegnen.
    Dann hätte sie nämlich möglicherweise erfahren, was zum Teufel eigentlich von ihr erwartet wurde.
    Langsam wurde es dämmrig. Merrily ging zurück zur Wohnzimmertür und schaltete das Licht an. Zwei viktorianische Messinglampen flammten auf. Sie hingen über einem beschnitzten Ebenholztisch, der unter dem Fenster stand und den Raum dominierte wie ein Altar. Ein unbequem aussehender Armsessel und eine viktorianische Chaiselongue standen etwas davon entfernt.Alle vier Wände waren bis in Hüfthöhe getäfelt und darüber weiß gestrichen. Verglaste Bücherregale standen davor. Ein schwarz gerahmter Kupferstich zeigte zwei Elfen im viktorianischen Stil, die in eleganter Haltung in einen Teich blickten. Daneben hingen einige gerahmte Fotografien.
    Merrily stellte sich mit herabhängenden Armen ganz ruhig hin, um alles konzentriert in sich aufzunehmen.
    Der Angestellte von McCready war kurz vor sechs Uhr zu ihr ins Pfarrhaus gekommen, um ihr einen braunen Umschlag zu übergeben, der den Haustürschlüssel und einen kleineren Schlüssel enthalten hatte. Sonst nichts. Keine Anweisung, keinen Hinweis.
    Merrily verschränkte die Arme vor der Brust. «Was soll ich tun, Lucy?»
    Es erschien ihr nicht seltsam, diese Frage laut zu stellen. Sie lebte mit der etwas unorthodoxen Vorstellung, dass die Toten bis zur Beerdigung noch nicht ganz gestorben waren. Manchmal, wenn sie in der Kirche einen Sarg betrachtete, schien er so etwas wie Erleichterung oder Dankbarkeit auszustrahlen. Manchmal aber auch Entrüstung.
    Nichts geschah. Die Lampen gingen nicht aus. Kein fledermausartiges Wesen mit Hakennase löste sich von der Wandvertäfelung. Und Merrily fühlte weder etwas Besonderes, noch hörte sie eine innere Stimme.
    Sie sah sich die Fotos an. Eine verschwommene Schwarzweißaufnahme zeigte eine viel jüngere Lucy, die in einem Sommerkleid auf einer Bank saß. Ein junger Mann in Cricketkleidung beugte sich über die Rückenlehne und hatte die Hände auf Lucys Schultern gelegt. Lucy lächelte traurig, als wüsste sie, dass aus dieser Geschichte nichts werden würde. Auf einem anderen Bild war Lucy im mittleren Alter und mit kürzerem Haar zu sehen. Sie hatte ihre Hosen in Reitstiefel gesteckt und hielt einem gescheckten Pony einen Futtereimerhin, wobei ihr eine jüngere Frau zusah. Ihre Züge wirkten merkwürdig vertraut auf Merrily. War die jüngere Frau eine Schwester von Lucy gewesen? Oder eine Freundin aus dem Ort?
    Merrily spähte in die Bücherschränke hinein, ohne sie zu öffnen. Viele Titel behandelten englische und walisische Geschichte. Sie reichten von altbekannten Klassikern bis zu modernen Veröffentlichungen.
    Merrily wandte sich wieder dem Tisch zu. Ein kleines Kabinettschränkchen stand darauf. Es war eines dieser kastenartigen viktorianischen Schreibkabinette, aus denen sich eine schmale, schräg abfallende Schreibfläche ausklappen ließ. Die beiden Wandlampen waren so ausgerichtet, dass sie den Kasten in helles Licht tauchten.
    «Ist ja unheimlich», sagte sie laut, um sich selbst zu beweisen, dass sie das gar nicht unheimlich fand. Ganz und gar nicht.

Weitere Kostenlose Bücher