Für immer in Honig
heraus und legte eine andere ein – »Nicht nur E-Musik, um die Frage zu beantworten. Auch Scheiße. Moment, ich skippe zur entscheidenden Stelle …« Johanna Rauch fuhr, endlich doch schockiert, unwillkürlich zusammen, als eine unglaublich schrille, piepsige Stimme mit aller Penetranz, die sie aufbringen konnte, zu greulicher Schmalzbegleitung tapfer schmetterte:
Ich schicke dir jetzt einen Engel
Und mit dem hol’ ich dich da raus
Denn mit so himmlischen Kräften
Sieht die Welt gleich anders aus
Ich sprech’ für dich ein Vaterunser
Denn das soll helfen in der Not
Und ich öffne dir die Augen,
du hast so viel, für das es sich zu leben lohnt
»Das schönste«, sagte die Verurteilte und drückte die Pausentaste, »an dem Kram ist die Betonung: So himm-LI-schen Kräften, also nicht HIMM -lischen, wie es richtig wär … wie bei Nena: ›Nichts auf dieser Welt ist schlimmer / als ein leeres HO -telzimmer‹, ja und inhaltlich ist es natürlich auch kaum zu toppen: Daß sie das Vaterunser nur spricht zum Beispiel, sie könnte ja auch sagen: Ich BET für dich ein Vaterunser … Aber es ist ein guter Rat, so Sachen einfach nur aufzusagen, auf Nummer Sicher zu gehen, nehme ich an, wenn man sich selbst nix zutraut und lieber noch an Kräfte appelliert, an die man nicht glaubt, als selber was zu probieren. Kublai Khan hatte Geistliche aller Religionen am Hof. Kann ja nicht schaden, siehe Nathan der Weise, Ringparabel. Diese Kiste.«
Sie lächelte entschuldigend, drehte am Gerät rum, wieder die Stimme:
Willst du im Frust jetzt überwintern
Und dich in Selbstmitleid ausruh’n?
Dann schaltete Cordula den Apparat ab und die Psychologin fragte: »Was um alles in der Welt war das?«
»Michelle, Schlagersängerin, vor dem Totentanz. Großes Talent. Hätte ich damals gerne für die Pfauentruppe gehabt, sehr ehrgeiziges Mädchen, Herzinfarkt mit einunddreißig, pausenlos auf Tour.«
»Solche Leute haben Sie gefördert?«
Der Humor verschwand aus Cordulas Mimik, als sie erwiderte. »Ja. Denn solche Leute habe ich gebraucht.«
Die Psychologin sah an der Verurteilten vorbei zu deren Nachttisch: »Ihre Bettlektüre?«
»Ja. Hannah Arendt, ›Eichmann in Jerusalem‹. A real eye-opener, wie man hierzulande sagt.«
»Sehen Sie Parallelen zwischen Ihrem Fall und dem?«
»Im Gegenteil. Ich sehe Parallelen zwischen meinem Fall und dem in der ›Maßnahme‹ von Brecht. Allerdings muß man’s vom Kopf auf die Füße stellen – dort heißt es, das heißt, der Verurteilte sagt: Ich, der ich so sehr nützen wollte, habe nur geschadet. Bei mir … bei mir war’s genau andersrum, wie bei Mephistopheles.«
3 Am Tag der Verkündung des »Urteils von New York«, das die Weltmedien lange erwartet hatten, geschahen zwei unterschiedlich wichtige Dinge in Andreas Witters Leben: 1.) Die Apothekerin Tamara Jacobs, mit der er mittlerweile mehr als nur das Hobby »Mutationsfahndung« sowie dazugehörige Interessen aus dem Bereich der evolutionären Biologie teilte, übernachtete das erste Mal in seinem Haus und 2.) er unterhielt sich das erste Mal seit fünf Jahren mit seinem Sohn und Cordulas Enkel, per Bildtelefon.
Tamara traf eine halbe Stunde nach dem Gespräch mit David Josua Thiel ein, hielt Andy noch in der Tür die mitgebrachte Flasche Wein entgegen und ließ sie sofort sinken, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte:
»Schlechte Nachrichten? Wegen deiner Mutter?«
»Sie hat gekriegt, was … was sie wollte, würde ich sagen. Nein, was mich … worüber ich mich ärgere, ist mein verdammter Sohn, der mir jetzt empfiehlt, ich soll hinfliegen und zugucken, wie sie geröstet wird, oder was auch immer sie mit ihr machen. Er haßt sie, seine komische Oma. Und spielt sich ganz schön auf damit.«
»Ihr habt nicht viel gemeinsam?« fragte Tamara und wußte genau, daß sie den schmalen Grat zwischen Mitgefühl und Zudringlichkeit betreten hatte.
»Na ja, mal sehen«, brummte Andy und führte sie ins Haus, den gesunden, starken Arm um ihre Hüfte, »er ist schwul, er ist faul, er ist voller Haß, weil nichts, was man ihm als Kind erzählt hat, stimmt … Ich würde sagen, viel haben wir nicht gemeinsam, aber das, was wir gemeinsam haben, ist nicht geeignet, uns je die besten Freunde werden zu lassen.«
»Und das tut dir leid«, es war keine Frage.
»Das tut mir leid, ja.«
Sie setzten sich zum Essen – er hatte ein Steinpilzrisotto zubereitet, das er als »passabel« bezeichnete, während sie’s mit Recht »entschieden
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