Gefürchtet
mittlerweile den Küchentisch erreicht, zog sich auf einen Stuhl und riss das Päckchen auf. Ich schlängelte mich durch den überall verstreuten Schubladeninhalt und die Glasscherben zur Besenkammer.
»Darum kümmere ich mich schon«, sagte er und griff nach dem Rei fen. »Wenn ich das re pariert habe, fahre ich in die Arbeit. Wir reden später.«
Der Himmel vor der Fensterwand in sei nem Rücken hatte sich kobaltblau gefärbt. Am Horizont hing eine Mondsichel, die so bleich war, dass sie wie eine Illusion wirkte. Aber ich wusste, dass dieser Mond real war. So wie meine Situation. Und ebenso unabänderlich.
Raben ernähren sich von totem Fleisch.
Sie sind Aasfresser, das hatte er nachgeschlagen.
Einem alten Aberglauben zufolge rochen Raben den Tod. Deswegen galten die Vögel als schlechtes Omen: Deine Zeit ist abgelaufen. Und deswegen hatte Ricky Jimson heute Abend auch solche Angst gehabt. Das war auf den Fotos deutlich zu erkennen.
Die Bildqualität war lausig, weil sein Mobiltelefon nur mit einer winzigen Kamera ausgestattet war. Aber als er die Bilder vom Handy auf seine Festplatte herunterlud, hatte er trotzdem wieder dieses Hochgefühl gespürt, das ihn überkommen hatte, als er die Raben erschoss. Diesen Rausch, der ihn gepackt hatte, als die Vögel auf dem Motorblock in Brand gerieten und PJ mit dem Feuerlöscher kämpfte, während Ricky bei dem Versuch wegzulaufen stolperte und stürzte. Keiner der beiden hatte ihn bemerkt, wie er sich in der Ecke der Tiefgarage hinter seinem Auto versteckte. Diese Loser.
Er bearbeitete die Fotos und sortierte sie in seine Sammlung ein. Interessante Aufnahmen.
Warum wurde er dann dieses nagende Gefühl im Magen nicht los?
Weil es mit den Bildern von heute Abend drei Probleme gab. Zum einen handelte es sich um Fotos, nicht um Videos. Zweitens gab es kei nen Ton. Und drittens war er selbst nicht drauf.
Sehr, sehr ärgerlich.
Trotzdem hieß es Ruhe bewahren. Die heutige Aktion war reiner Psychoterror gewesen. Er hatte einfach ein bisschen mit ihnen gespielt. Kein Grund zur Aufregung also.
Um sich zu beruhigen, ließ er das Video mit seinen Highlights laufen. Wie immer hob sich seine Stimmung. Leider war die Sammlung unvollständig. Seine Anfänge als Einbrecher fehlten, aber während der Schul zeit hatte er nicht daran gedacht zu filmen. Erst als es mit den Überfällen losging, war er auf den Gedanken gekommen. Damals hatte er die Objekte immer vorab erkundet und fotografiert. Es war schon ein Geistesblitz gewesen, die Kamera auf den Einsatz selbst mitzunehmen. Die Gesichter der Leute waren unbezahlbar.
Als ihn eine Freundin dann in Aktion filmte, war das »Best of«-Video geboren.
Er spulte vor. Ja, echt gut, wie der alte Libanese hinter der Theke seines Lebensmittelgeschäfts kauerte. Und das mit der Dicken vom Schnapsladen, die heulte, als er ihr den fetten Arsch mit ei nem Elektrokabel versohlte, war auch nicht übel.
Aber der Frust blieb. Bildmaterial, das ihn selbst nicht zeigte, taugte einfach nichts.
Er spulte zu seinem Lieblingsauftritt, dem Überfall auf den 7-Eleven-Supermarkt. Ein Volltreffer. Die Aufnahmen der Sicherheitskamera waren landesweit im Fernsehen gezeigt worden und in America’s Most Wanted gelaufen. Er beobachtete sich selbst dabei, wie er den Verkäufer mit der Pistole niederschlug. Das Blut, die Schreie, der perfekte Bogen, in dem er den Pistolenkolben auf die Stirn des Kerls niedersausen ließ. Er legte einen genialen Auftritt hin, wirkte selbstbewusst und kraftvoll. Einziger Wermutstropfen war die Skimütze, die sein Gesicht verdeckte.
Mist.
Zum Teufel damit. Er stand auf und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Dann spähte er in den Spiegel, atmete tief durch und sah zu, wie sich sei ne Brust hob und senkte. Er musste seinen nächsten Auftritt planen, der seine Probleme ein für alle Mal lösen würde. Weg mit all diesen Nieten, die sein Leben durcheinanderbrachten. Wie Ricky. Und PJ. Und Evan Delaney, diese Nervensäge. Er musterte sich im Spiegel. Heitere Gelassenheit trat in seinen Blick.
16. Kapitel
Zu Hause arbeitete ich sechs Stunden lang durch. Immer wieder starrte ich geistesabwesend auf meinen Berufungsschriftsatz. Dann ging ich eine Stunde lang lau fen. Das Wetter war sonnig, was mei ne Stimmung deutlich hob. Hinterher duschte ich und versuchte, mir einzureden, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Irgendwann. Eine andere Möglichkeit wollte ich gar nicht erst in Betracht ziehen. Ich setzte mich aufs
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