Geisterstadt
Aber jede neue Theorie war auch eine neue Chance, den Fall zu lösen, oder?
Der Älteste Griffin lächelte. »Das können wir in der Tat. Einen Augenblick.«
Sie sah zu, wie er einen Computermonitor herüberschwenkte und zu tippen anfing. Das Klicken seiner Finger auf der Tastatur beruhigte sie, doch als sich seine Miene zunehmend verdüsterte, wurde sie doch nervös. »Nein. Nein, es scheint, dass er nicht verstorben ist - wenigstens finde ich hier keine Sterbeurkunde. Und auch keine Adresse.«
Gerüchteweise war er tot, aber das stimmte nicht. Er hatte eine Adresse, an die die Lamaru ihm Briefe schickten, aber im Kirchencomputer war sie nicht verzeichnet.
Baldarel war untergetaucht. Und Chess wusste nur zu gut, wohin man ganz prima abtauchen konnte.
Falls Maguinness und Baldarel tatsächlich dieselbe Person waren, würde das eine Menge Fragen beantworten - wie er sie im Schlachthof gefunden hatte, zum Beispiel. Aber es warf auch ein paar neue Fragen auf Die Lamaru sollten wirklich von der gleichen Person Hilfe erhalten, die sie zugleich bekämpfte?
Es sei denn, Baldarel hätte sie brieflich angewiesen, sich mit »Maguinness« zu treffen. Er hatte sie persönlich in Augenschein nehmen wollen, um sicherzugehen, mit wem er es zu tun hatte, und das hatte er dann anscheinend auch herausgefunden. Jetzt lockte er sie ganz langsam von einer Falle in die nächste. Fast bewunderte sie ihn, aber die Angst vor ihm überwog. Jemand, der die Lamaru wie Schoßhündchen behandeln konnte - wie furchtbar treffend -, um sie dann mit eingezogenem Schwanz in die Flucht zu jagen, war mit Sicherheit Jemand, mit dem nicht zu spaßen war, und dieser jemand kannte sie und hatte in ihren Verstand gesehen.
Aber verfolgt hatte er sie nicht. Warum?
Die ganze Sache verursachte ihr Kopfschmerzen - oder hätte ihr Kopfschmerzen verursacht, wäre sie in der Lage gewesen, körperlichen Schmerz zu empfinden. Stattdessen fühlte sie sich einfach nur müde, während die Gedanken in ihrem Kopf sich ächzend im Kreis drehten wie eine erschöpfte Maus im Laufrad. Baldarel und Maguinness und Hunde und Kröten und Lamaru, Räume und Straßen, die blutrot waren ... Terribles Hände auf ihrer Haut, sein Mund an ihrem Hals ...
»Ich habe hier ein Bild, wenn du mal schauen willst.« Der Älteste Griffin drehte den schicken Flachbildschirm auf seinem Schreibtisch zu ihr hemm. Das Aufblitzen der Deckenlampe verwandelte ihn kurz in einen leeren silbernen Spiegel, auf dem nichts zu erkennen war. »Ist das der Mann, dem du begegnet bist?«
Der Bildschirm klärte sich. Chess war nicht im Geringsten überrascht, als ihr das Bild eines jungen Arthur Maguinness - eines jungen Baldarel - aus einem grobkörnig eingescannten Foto entgegenstarrte.
»Ja«, sagte sie. »Ja, das ist er.«
29
Wer schwarze Magie ausübt, schreckt auch sonst vor nichts zurück. Einmal böse, immer böse.
Das Buch der Wahrheit, »Veraxis«, Artikel 915
In diesem Abschnitt der Tunnel war sie noch nie gewesen. Das war auch kaum überraschend, immerhin hatte sie den größten Teil der Tunnel noch nie gesehen. Mit Ausnahme einer Nacht, in der sie durch die Tunnel vom Bahnsteig an der Ewigen Stadt geflüchtet war, hatte sie sie eigentlich überhaupt nur benutzt, um zwischen ihrer Wohnung und der von Lex zu pendeln .Und außer in jener Nacht war sie hier unten auch noch nie allein gewesen.
Lex schien immer genau zu wissen, wo sie gerade waren. Sie hatte zwar meistens eine ungefähre Vorstellung, die ausreichen würde, damit sie sich hier unten nicht total verlief-und außerdem gab es ja auch noch die Ausgänge -, aber die Selbstsicherheit, die er an den Tag legte, ging ihr völlig ab.
Es war jedoch nicht nur das Gefühl der Orientierungslosigkeit, weshalb ihr bei dem Gedanken, sie müsste sich hier unten allein zurechtfinden, nicht recht wohl war. In der Nacht, als sie aus dem Bahnhof geflüchtet war - vor den Lamaru, die sie dorthin verfolgt hatten war sie über ein paar von Slobags schmutzigen kleinen Geheimnissen gestolpert, und zwar ganz wortwörtlich. Leichen in den Tunneln; Hinrichtungsopfer, die tief unter der Erde vor sich hin rotteten.
Sie war nicht scharf darauf, das noch einmal durchzumachen. Und wenn man zu den schlechten Erinnerungen noch die Abneigung einer jeden Hexe gegen den Aufenthalt unter der Erde hinzunahm, plus die Sorgen und Ängste wegen dem, was sie und der Älteste Griffin entdeckt hatten, dann wäre Chess wohl auch ohne die Nips in ihrem Kreislauf schon
Weitere Kostenlose Bücher