Geisterzorn: Der Fluch von Lost Haven (German Edition)
heute noch mal nachdenken, was du neulich zu mir gesagt hast und Mrs. Abagnale gestern zu uns gesagt hat.«
»Was meinst du«, fragte ich aus meinem Gedanken gerissen. Ich wunderte mich, warum sie mich immer noch Jack nannte.
»Du hast über einen Neuanfang gesprochen. Einen Neuanfang für uns beide gemeinsam. Ich weiß zwar, dass du in deinen Gefühlen gehemmt bist. Mir ergeht es ebenso. Kein Wunder, nach allem, was passiert ist. Aber nach dem, was letzte Nacht geschehen ist und was Mrs. Abagnale über uns beide gesagt oder besser, was sie in uns erkannt hat, da frage ich mich, ob es weiterhin der richtige Weg ist, dass wir davor zurückscheuen, unsere Gefühle füreinander zuzulassen.«
Ich weiß nicht, was ich geantwortet hätte, wenn Beverly mir diese Frage einen Tag früher gestellt hätte.
Ich weiß nur, dass meine Antwort mir das Herz brach und meine letzte Hoffnung auf ein lebenswertes Leben unter einem Haufen Verzweiflung begrub. Ich hatte mir geschworen, Beverly fortan aus meinem Unglück herauszuhalten. Wenigstens diesem Versprechen musste ich mir gegenüber treu bleiben. Oder nicht?
Ich nahm ihre Hand. Sie war kühl. »Ich bin mir nicht sicher, was richtig und was falsch ist«, sagte ich. Aber ich glaube, dass es in diesen Tagen das Beste für uns ist, sich davor zu scheuen. Ich weiß nicht, ob du das verstehst. Aber wenn du jetzt wütend und enttäuscht bist, dann sag es mir.«
Das ist also das Einzige, wozu ich noch imstande bin: Enttäuschung sähen. Und Wut ernten.
Selbst wenn Beverly beides gewesen wäre, hätte sie mir es nicht gesagt.
Ich kam mir vor wie ein Schwein. Wochenlang hatte ich sie feige zappeln lassen, nur um ihr jetzt eine Abfuhr erteilen zu müssen.
Aber ich sah keine andere Möglichkeit, sie zu beschützen.
»Ich bin nicht wütend«, sagte sie. »Und wir haben noch viel Zeit.« Sie stand auf und küsste mich auf die Stirn.
Dann verließ sie den Raum mit einer Selbstbeherrschung, die mich zutiefst schockierte.
Ich blieb allein in ihrem Wohnzimmer zurück.
5
Am späten Nachmittag des nächsten Tages wollte ich kurz bei Mrs. Trelawney vorbeischauen, so wie am Tag zuvor. Das hatte ich eigentlich schon früher tun wollen, aber ich hatte bis Mittags geschlafen und fühlte mich nach dem Aufwachen wie gerädert.
Ich musste Beverly versprechen, nicht allein in mein Haus zu gehen. Das tat ich auch.
Sie fühlte sich nicht gut und wollte früh zu Bett gehen. Ich sagte ihr, dass ich noch einen langen Spaziergang machen wolle, um später Schlaf finden zu können.
Beverly protestierte nicht und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück. Sie sah blass aus. Und krank.
Es war noch nicht ganz dunkel, als ich bei meiner Nachbarin eintraf. Als ich sie hinter dem Küchenfenster vorbeihuschen sah, verließ mich der Mut, sie zu stören. Sie war dem äußeren Anschein nach in Ordnung. Ich wollte vermeiden, dass sie mich auf die merkwürdigen Geräusche aus meinem Haus, die sie gestern gehört haben könnte, ansprechen würde. Also kehrte ich wieder um und durchstreifte die Ortschaft. Bewusst ignorierte ich mein Haus.
Ich ging die Main Street hinab und setzte mich in der Nähe des Hafens ans Wasser.
Es wurde Nacht. Trotz der idyllischen Ruhe gelang es mir nicht, meine Gedanken zu sortieren.
Die einzigen ständig wiederkehrenden Worte waren die von Mercedes Abagnale: Wenn ich mich jetzt umbringen würde, dann würde ich unwissend sterben. Als Versager. Und wenn ich in meiner größten Verzweiflung zur Klippe ginge, würde ich vielleicht die Wahrheit finden, aber vielleicht auch den Tod.
Wissend sterben. Oder unwissend.
Nein. Damit wollte ich mich nicht abfinden. Ich wollte nicht als Versager sterben und ich war noch nicht verzweifelt genug, um zur Klippe zu gehen.
Ich wählte die dritte Alternative. Ich ging zurück zu meinem Haus. Dort war zwar nicht die Antwort, aber die Ursache.
Und sie galt es zu beseitigen.
Jack folgt einer letzten Spur
1
Während ich an den Häusern am Hafen an der Main Street und der Kennington Street vorbeiging, glaubte ich, all jene Geister, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts diesen Ort heimgesucht hatten, hinter den Fenstern sehen zu können. Ich stellte mir vor, wie sie erschöpft von ihrer Verzweiflung aus den Fenstern starrten mit einem Gesichtsausdruck, den nur Tote haben können. Resignierte und gleichgültige Gesichter. Weltliche Fragen waren für sie ohne Bedeutung geworden.
Sie waren alle noch hier, das konnte ich deutlich spüren.
Weitere Kostenlose Bücher