Ghost Street
Homer Middleton ab. Sein Schicksal war besiegelt. Nichts würde ihn vor dem gewaltsamen Ende durch den Strang bewahren. In wenigen Minuten würde sich die Schlinge um seinen Hals zusammenziehen, und er würde jämmerlich ersticken. Er würde auf die gleiche Weise sterben wie sein Onkel, durch die Hände des Klans.
Mit dem Wissen, bald vor seinen Schöpfer zu treten, ergriff eine seltsame Ruhe von ihm Besitz. Alle Angst und alle Panik fielen von ihm ab und er sah weder die erregten Blicke der Klansmänner noch hörte er die barschen Befehle des Anführers.
Seine Gedanken galten allein seiner Frau und seinen Kindern. Er betete nur für sie, bat Gott, ihnen über den Tod ihres Mannes und Vaters hinwegzuhelfen und ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen. »Mary-Beth«, flüsterte er ihren Namen. »Kayla! Kate! Benny!«, nannte er noch einmal die Namen seiner Kinder. Er beobachtete, wie der Apotheker und der andere Mann das Holzkreuz in den Boden stießen, es mit Benzin übergossen und anzündeten, und er sah den Klansmann, der ihm die Schlinge um den Hals gelegt hatte, vom Wagen springen. Der Mann band das andere Ende des Seils um den Stamm der Eiche.
»Fahr zur Hölle, Nigger!«, rief der Anführer und gab dem Fahrer des Pick-ups das Zeichen loszufahren. Es waren die letzten Worte, die Homer hörte, bevor die Ladefläche unter ihm verschwand und sich das Seil straffte. Sein Körper zuckte einige Sekunden im Todeskampf, dann erschlaffte er. Homer Middleton war tot.
22
Der Radiowecker weckte Alessa um zwanzig Minuten nach Mitternacht. Sie öffnete verschlafen die Augen und sah die Zahlen 12:20 auf dem Display blinken. Sie setzte sich fluchend auf.
»… habe ich einen weiteren Song aus den Sechzigern für Sie«, tönte die viel zu laute Stimme aus dem Radio. »Einen Song, der zur Hymne der Bürgerrechtsbewegung wurde und von Martin Luther King und den Schwarzen auf ihren Protestmärschen gesungen wurde. Hier ist die wunderbare Joan Baez mit We Shall Overcome .«
Alessa drückte das Radio aus und checkte die Weckzeit. Sie war wie gewöhnlich auf sieben Uhr eingestellt. »Seltsam«, wunderte Alessa sich, »da will mich wohl jemand verarschen? Warum geht das blöde Ding mitten in der Nacht an?«
Sie stellte den Radiowecker auf den Nachttisch und sank in ihr Kissen zurück. Schon im nächsten Augenblick setzte sie sich wieder auf. Ein Song aus den Sechzigern? Die Hymne der schwarzen Freiheitskämpfer? Schon ein seltsamer Zufall, dass sie ausgerechnet mit einem solchen Song geweckt wurde. Als wollte man sie an die Untaten des Ku-Klux-Klan und die Leiden der Schwarzen vor fünfzig Jahren erinnern. Was hatte das zu bedeuten?
Sie stellte das Radio wieder an, drehte es etwas leiser und lauschte dem Song. » We shall overcome, we shall overcome … wir werden alles Leid überwinden, denn eines Tages werden wir frei sein.« Schreckliche Bilder, die sie nur aus alten Fernsehberichten kannte, tauchten vor ihrem geistigenAuge auf. Männer in weißen Kutten, die Gesichter unter weißen Kapuzen versteckt, brennende Kreuze, an Bäumen aufgehängte Schwarze …
Abraham Middleton! Sie schwang ihre Beine aus dem Bett. So hatten sie den schwarzen Farmer vor vierzig Jahren getötet! Aber warum hatte sich der Radiowecker ausgerechnet jetzt eingeschaltet? Zwanzig nach zwölf …
Sie stand auf und lief ins Wohnzimmer hinab, zog ihren Laptop aus der Aktentasche und schaltete ihn ein. Ungeduldig wartete sie darauf, dass der Computer hochfuhr. Als es endlich so weit war, öffnete sie die Datei mit ihrer Seminararbeit über die Morde von Jeremy Hamilton. Nach einigem Suchen fand sie die Seiten über den Mord an dem Farmer. Zehn Klansmänner, hatte die Schwägerin des Ermordeten kurz nach dem Mord ausgesagt, hatten Abraham Middleton gelyncht. Zwischen ein und zwei Uhr.
Zwischen ein und zwei Uhr!
Sie rannte zurück ins Schlafzimmer und zog sich an. Ihren Jogginganzug und die Laufschuhe, die blaue Regenjacke. Ihre Haare band sie im Nacken mit einem Haargummi zusammen. Hastig lief sie zur Haustür hinunter.
Sie hatte keine Ahnung, was den Radiowecker dazu gebracht hatte, sich um zwanzig nach zwölf einzuschalten: der pure Zufall oder ein technischer Fehler oder auch der Geist, von dem ihre Vermieterin so oft sprach. Ganz egal, sie betrachtete es eindeutig als Hinweis, auch wegen des Songs, der gleich darauf gekommen war. Deutlicher konnte man sie nicht vor einem zweiten Mord warnen. Und selbst wenn der Song nur zufällig gespielt worden war,
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