Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
Messe, und es ist ja nicht an dem, dass du nicht arbeiten tätest wie ein Pferd für sie. Sag ihr das. Du musst es ihr abpressen, dass du bleiben kannst.»
Womit die Hechtelin ihre Schwester Susann verlässt.
SONNTAG, 28. JULI 1771, VIERTEL NACH FÜNF UHR MORGENS
«IST ES WAHR, was mir meine Schwester sagt, dass Ihr eine Magd gedungen habt?»
Kerzengerade steht die Susann, den dicken Bauch vorgestreckt unter der frisch gewaschenen, hellleinenen Schürze, mit großen Augen, in denen das ganze ihr angetane Unrecht glänzt.
Die Bauerin, ausnahmsweise bestens ausgeschlafen, hat eben die Bierstube zum Frühstück betreten. Sie wünschte sich, diese Auseinandersetzung jetzt nicht führen zu müssen. Aber nun ist es eben doch dazu gekommen. Da muss sie durch.
«Das ist ganz richtig. Zum ersten August geht Ihr, und die Neue kommt. Eure Schwester wird Euch aber auch gesagt haben, dass ich Euch, wenn Ihr gesund seid, in ein paar Wochen wieder nehmen will.»
«Frau Bauerin», sagt die Susann, der sich die Wangen röten, «ich muss Euch sagen, ich geh auf keinen Fall vor der Mess aus dem Haus. Das könnt Ihr mir nicht antun. Das ganze Jahr hab ich geackert für das bisschen Lohn, das Ihr so niedrig angesetzt habt im Hinblick auf die Trinkgelder bei den Messen. Schon zur Fastenmesse bin ich drum betrogen worden, weil Ihr mich nach hinten verbannt habt und die Christiane mir kaum was abgetreten hat. Und seitdem schufte ich für zwei und hab mir die Messtrinkgelder wirklich redlich verdient. Da könnt Ihr mich nicht drum bringen.»
Die Susann zittert regelrecht, bemerkt die Bauerin aus dem Augenwinkel, während sie selbst nach einem Zipfel Wurst greift.
«Aber Susann, was soll denn die Aufregung? Ich will Euch doch die Mess wieder nehmen. Pflegt nur schön ein paar Wochen Eure Gesundheit, und es wird wieder alles beim Alten sein für Euch.»
«Wenn Ihr mich sowieso wieder nehmen wollt in zwei Wochen, warum soll ich dann überhaupt weg?»
Das ist der Susann so rausgeplatzt, aber als sie den bösen Blick sieht von der Frau Bauerin, erst in ihr Gesicht und dann auf ihren Bauch, da weiß sie natürlich bestens, dass sie die Frage mal lieber gelassen hätte, denn die führt auf Gelände, das unbedingt umgangen werden muss. Und die Antwort auf ihre dumme Frage, die ist ja so sonnenklar.− Hat sie das denn tatsächlich nicht gewusst, dass die Frau Bauerin an eine Blutstockung schon lange nicht mehr glaubt? Höchstwahrscheinlich wollen deshalb auch die Schwestern sie nicht nehmen, nicht mal für ein paar Wochen, weil ja in diesen Wochen …
«Schluss», sagt die Bauerin, «keine Widerworte mehr. Euer Vierteljahr ist zu Ende am ersten August, und ich bin in meinem Recht, Euch wegzuschicken, ob für kürzer oder für immer. Ihr verschwindet jetzt in die Küch und nehmt Euer eigenes Frühstück ein, dass Ihr Kraft habt hinterher fürs Bettenmachen.»
Die Susann begibt sich durch die Wohnstube und die muffige Kinderschlafkammer in die Küche, drückt die Tür zu, und die Tränen laufen ihr übers Gesicht.
MONTAG, 29. JULI 1771
ES GAB MOMENTE, da konnte trotz allem die Demoiselle Goethe noch ausgelassen, fast kindlich sein. Und jetzt war so einer. Die Eltern allerdings mussten das ja nicht unbedingt merken. Deshalb war sie hoch in ihr Zimmer geflohen, und da hüpfte sie nun auf und ab, quietschende kleine Jubellaute ausstoßend. Nicht deshalb natürlich, weil der Vater sich beim Frühstück hatte überzeugen lassen, neun Gulden sechsunddreißig in schwarzem Taft anzulegen (was ein schönes Kleid für sie geben würde in ihrem neuen, strengen Stil). Nein. Der Grund war ein Brief, der eben in der Post lag.
Nicht an ihre Eltern, sondern an sie gerichtet. Ganz allein an sie.
Er hatte sie also doch noch lieb! Und kommen würde er, für immer , obwohl er in den letzten Jahren so viel über Frankfurt gelästert hatte und über das dumpfe hiesige Bürgertum und die Borniertheit der Händlerseelen. Mitte August bin ich da, hatte er geschrieben, Engelchen, ich halte es kaum aus, bis ich dich wiederseh.– Mitte August! Gerade einmal zwei Wochen waren das noch, dann wäre sie endlich, endlich heraus aus dem einsamen Langweiltrott, endlich nicht mehr alleine, wieder vereint mit dem, der ihr am nächsten war im Leben. Und das war niemand anderer als Wolfgang, ihr Bruder.
Wobei man zugeben muss, dass die Demoiselle Goethe bei ihrer lebhaften, aufgeregten Freude über die nahende Rückkunft ihres geliebten Bruders auch einen kleinen, in
Weitere Kostenlose Bücher