Halsabschneider. Kadir Bülbüls erster Fall
war
immer etwas Leckeres zu erwarten.
Ayse
tätschelte seine Wange. »Nun aber schnell fort, mein Junge, besser zu früh als
zu spät in der Schule!«
Angewurzelt
blieb Miran stehen und wartete.
»Ja,
arbeite doch ein wenig vor und mach deiner Lehrerin so ein Freude!« Hatun
schubste ihn dezent in die Seite und trieb ihn weiter zu Latife, die ihm einen
Apfel gab und ihm ins Ohr flüsterte: »Klingel heute Nachmittag noch einmal bei
mir, dann gibt es eine Überraschung. Aber nur, wenn du jetzt husch husch in die
Schule gehst. Nein. Geh nicht, renn besser!«
Miran
strahlte, umklammerte seine Tasche und ahmte ein Rennwagengeräusch nach bevor
er davon galoppierte.
Die
Frauen steckten die Köpfe wieder zusammen.
»Es
war dieser verrückte alte Mann, den wir schon seit Jahren kennen. Der, der
immer mit seinem blitzblank geputzten Fahrrad durch den Ort kurvt. Levent sagt,
es ist ein Ex-Kommissar aus Deutschland, er kommt aus der gleichen Stadt wie
das Opfer. Da habt Ihr das Motiv!«
»Was
soll das für ein Motiv sein?«, fragte Latife. »Das ist ein Zusammenhang und
kein Motiv. Nein, nein, das muss ein Missverständnis sein, ich glaube nicht,
dass der Mann etwas damit zu tun hat, er war immer ausgesprochen höflich und
zuvorkommend, wenn ich ihm begegnete. Er hielt immer an und ließ mich die
Straße queren, machte sogar stets eine kleine Verbeugung von seinem Sattel
herab. Oh nein, da hat der komiser den Falschen erwischt, glaubt mir!
Mein Kadir ist bei der deutschen Polizei ausgebildet und das war eine
grundsolide, eine hervorragende Ausbildung, kein deutscher Kommissar käme
jemals auf die Idee, eine Frau zu ermorden, nur weil sie aus der gleichen Stadt
kommt!«
Latife
schüttelte den Kopf.
»Ein
deutscher Kommissar würde überhaupt nie morden, weder Ausländerinnen noch
Türkinnen...«, legte sie triumphierend nach.
»Es
ist aber wie es ist!«, unterbrach Hatun in dem Gefühl ihren Neffen und die
türkischen Sicherheitskräfte verteidigen zu müssen. »Levent hat nie behauptet,
dass dieser Mann die Touristin ermordet hat, nur weil sie aus der gleichen
Stadt kommen.«
»Du
hast gesagt, das wäre das Motiv, Ayse, habe ich nicht Recht? Hat sie das
gesagt oder nicht?«
»Hat
sie!«
»Das
ist natürlich nur der winzigkleine Teil des Motivs, den ich kenne. Ein Ausschnitt,
eine Facette der Gesamtgeschichte! Levent kann mir doch nicht alles verraten,
er ist schließlich ein pflichtbewusster Polizist. Aber ich kann Euch noch
sagen, dass der Mann leugnet, er hat noch kein Geständnis abgelegt. Aber bei Refik
Dalgas Verhörmethoden gestehen sie früher oder später alle , soviel ist
sicher . «
Latife
lehnte sich zurück und kniff die Augen zusammen. Ihre Stirn legte sich in tiefe
Falten. Wieso hatte bebegim ihr davon nichts erzählt? Vertraute er ihr
nicht? Oder, was viel schlimmer war, wusste er etwa nichts davon? Bestand die
Möglichkeit, dass Dalga den Fall löste und nicht ihr Sohn? Was würde Nevin dazu
sagen?
Latife
hievte sich mit erstaunlicher Behändigkeit aus ihrem Klappstuhl. »Ich bin
gleich wieder da, mir ist gerade eingefallen, dass ich ... äh ... ich glaube,
ich habe vorhin die Kühlschranktür nicht richtig zugemacht, man muss sehr fest
drücken, sonst springt sie nach einer Minute wieder auf. Bin gleich wieder bei
Euch!«
»Beeil
dich nicht, Latife, ich muss schnell noch auf den Markt, fällt mir ein. Meine
Tochter und mein Enkel kommen heute Abend, und ich habe ganz vergessen, ein
paar ... Tomaten ... und ... Gurken ... zu holen.«
Ayse
stand auf, stapfte durch die knirschenden Sonnenblumenschalen und wühlte in
ihren Hosentaschen. Verwirrt sah Hatun den beiden Freundinnen nach. Dann zuckte
sie die Achseln, schlüpfte in ihre Hauspantoletten und schlenderte mit
schmatzenden Gummisohlen zu einer Nachbarin zwei Häuser weiter, die eben Wäsche
vor dem Fenster aufhängte.
Bevor
Latife im Haus verschwand, sah sie noch, wie Ayse das Handy aus der Tasche zog,
das ihr Mann ihr für Notfälle gekauft hätte und das sie angeblich nicht
bedienen konnte. Notfälle!, höhnte Latife in Gedanken und zog sich
aufgeregt am Treppengeländer hoch. Jetzt wird sie das Handy gleich zum
Schmelzen bringen in dem Versuch einhundert Nummern gleichzeitig zu wählen. Wie
schwatzhaft sie ist! Aber was rege ich mich auf? Das war sie schließlich schon
zu unserer Schulzeit, nichts konnte sie für sich behalten! Und das, obgleich
wir Hatun hoch und heilig versprochen haben zu schweigen!
Latife
öffnete die Wohnungstür
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