Herzensruhe
Geist auf ihm ruht und ihm die Ruhe schenkt, die ihm Kraft gibt, wirklich schöpferisch zu sein.
Auf dem Hintergrund des griechischen und jüdischen Ruheverständnisses werden die Worte Jesu auch für uns heute
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hoch aktuell. Wir gleichen den unvernünftigen Menschen, die ruhelos bleiben, weil sie nicht zu ihrem wahren Grund gefunden haben. Es lastet der Fluch Kains auf uns und läßt uns ruhelos umherirren. Wir laufen davon vor unserem schlechten Gewissen. Angst und Schuldgefühle lassen uns nicht zur Ruhe kommen. Die Frage ist, wie wir bei Jesus die wahre Ruhe finden können. Jesus lädt uns ein mit den Worten: „Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig“ (Mt 11,29). Zwei Wege wollen uns in die Ruhe einführen. Der erste Weg besteht darin, daß wir das Joch Jesu auf uns nehmen sollen. Es ist das Joch der Weisheit, das Joch des göttlichen Gesetzes, das frei ist von Menschensatzung, das dem Menschen guttut. Es ist ein leichtes Joch, das nicht drückt, sondern in die Freiheit führt. Wer sich unter das Wort Jesu stellt, wer sich von Jesu Lehre einführen läßt in das Geheimnis des barmherzigen Gottes und in das Geheimnis des Menschen, der findet wahrhaft Ruhe. Das Wort „Religion“ kommt von Joch. Es meint ein Anjochen an Gott, ein Anbinden (religare) an Gott.
Nur wer in seinem Herzen an Gott gebunden ist, wird frei von den vielen Binden, die ihn sonst gefangenhalten. Er wird frei vom Joch der Sklaverei, das er auf sich nimmt, wenn er sich von Menschen und ihrer Anerkennung abhängig macht. Er wird frei vom Joch der Angst, er wird frei vom Joch der vielen Gesetze, die ihn am Leben hindern.
Der zweite Weg besteht im Lernen. Wir sollen lernen, daß Jesus gütig und demütig ist. Jesus ist gütig und milde, freundlich und gewaltlos. Und er ist demütig. Er ist hinabgestiegen in die Tiefen des Menschseins. Beide Haltungen, prays und tapeinos, sind offensichtlich Wege zu wahrer Ruhe. Prays meint Jesu geduldige Freundlichkeit, die er gerade den Sündern gegenüber zeigt. Jesus ist sanftmütig wie Mose (vgl. Num 12,3). Wer von Jesus diese Güte und Sanftmut, die Freundlichkeit und Milde sich selbst gegenüber und andern gege nüber lernt, der findet Ruhe. Wer gut ist zu sich selbst und zu andern, der kommt in
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seinem Herzen zur Ruhe. Wer dagegen aggressiv gegen sich und seine Leidenschaften und Bedürfnisse wütet, der weckt in ihnen eine Gegenkraft, die ihn einfach nicht in Ruhe läßt. Er muß dann ständig auf der Hut sein, daß ihn seine Leidenschaften nicht überrumpeln und bestimmen. Wer freundlich mit sich und mit andern umgeht, der muß nicht ständig in der Angst leben, von andern angefeindet oder ausgenutzt zu werden. Und wer milde geworden ist, wer seine Verhärtung und Erstarrung von den Mühlsteinen seines Lebens hat zermahlen lassen (milde kommt von mahlen), der ist fähig zu wirklicher Ruhe. Er ist weich geworden, er muß nichts mehr festhalten. Er ist nicht nur milde, sondern auch weise. Er hat geschmeckt (sapiens kommt von sapere = schmecken), was das Geheimnis des menschlichen Lebens ist. Er hat erfahren, daß er nichts festhalten kann, daß er nur in Gott Halt und Ruhe finden kann.
Auch die Demut ist Voraussetzung für die Ruhe. Schon im Alten Testament ist Sanftmut und Demut (prays und tapeinos) oft miteinander verbunden. Das griechische Wort bedeutet: niedrig. Das lateinische Wort „humilitas“ interpretiert die Demut als Mut zur eigenen Erdhaftigkeit, als Mut, zu seiner irdischen Existenz zu stehen und sich nicht über seine Geschöpflichkeit zu erheben. Die Demut besteht letztlich im Mut, der eigenen Wahrheit ins Auge zu sehen, hinabzusteigen vom hohen Roß der eigenen Idealbilder, um sich auszusöhnen mit seiner Wirklichkeit als Mensch. Wer seiner Wahrheit nicht mehr davonläuft, wer seine Augen nicht mehr davor verschließt, der kann Ruhe finden. Solange ich meiner Wahrheit ausweiche, werde ich innerlich nie ruhig werden.
Jesus verheißt uns beides: „Ich werde euch Ruhe verschaffen“
(Mt 11,28) und: „Ihr werdet Ruhe finden für eure Seele“ (Mt 11,29). Als sich die Apostel von ihrem Verkündigungsauftrag wieder bei Jesus einfinden, lädt er sie ein: „Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus (anapausasthe) „ (Mk 6,31 ). Er verschafft seinen Jüngern Ruhe,
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indem er sie von der Menge absondert, ihnen einen Raum des Ausruhens ermöglicht, eine Pause, um von sich zu erzählen und
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