Hexenjagd
tun sollte. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er aus einem ganz bestimmten Grund hier war und auf keinen Fall wieder gehen durfte, bevor erledigt war, was erledigt werden musste. Selbstverständlich war er sich bewusst, dass seine Gedankengänge und sein Verhalten entgegen jeglicher Vernunft liefen. Dennoch machte er sich keine Sorgen um seinen Verstand. Im Gegenteil. Er war nie zuvor ruhiger gewesen.
Celiska betrachtete unterdessen mit weit aufgerissenen Augen die äußere Fassade der Klosteranlage. Seltsam vertraut anmutende Bilder bekam sie hier zu sehen, dachte sie betroffen und fühlte ihre Finger zu Eiszapfen werden. Doch nur eine Minute später lachte sie über sich selbst, denn die aufwendig gearbeitete Marmortafel, die neben dem großen Tor in eine Mauernische eingelassen war, verriet ihr, was sie tatsächlich hinter den hohen Mauern vorfinden würde – nämlich ein Hotel! Ehemals ein abgelegenes Kloster, war die Anlage in den letzten Jahren zu einer Nobelherberge umgestaltet worden, die eigens für übersättigte und somit sehr anspruchsvolle Touristen gedacht war, die sich den Luxus leisten konnten, für die Übernachtung in einer Klosterzelle ein kleines Vermögen zu zahlen.
Vincent brauchte nur unwesentlich länger, um die Marmortafel zu entdecken, und bemerkte nun endlich auch den Pförtner. Der Mann in der stilisierten Mönchskutte schien sich gerade eben durch Zauberkraft an diesem Ort materialisiert zu haben, denn er war urplötzlich neben der Fahrertür aufgetaucht.
„Sir? Haben Sie reserviert? Oder möchten Sie sich nur umsehen?“
Da sie sich nun in der Tat ein wenig umschauen wollten, ließ Vincent sich das Tor öffnen und einen Parkplatz zuweisen und begleitete Celiska anschließend ins Innere des weitläufigen Gebäudes. Allerdings gab es neben einer kunsthistorischen Ausstellung in der ehemaligen Kapelle der Anlage nicht viel zu sehen, so dass sie die düstere Atmosphäre des kleinen Gotteshauses schon bald wieder hinter sich ließen. Wieder im Hof angelangt, bemerkten sie zum ersten Mal die hohen Steine eines kleinen Friedhofs, der sich an den Kapellentrakt anschloss, und beschlossen spontan, noch einen kleinen Spaziergang zu machen, bevor sie die Rückreise nach Salisbury antraten.
Vincents Arm lag um Celiskas Schultern, während sie eng aneinandergedrängt über die sorgsam gepflegten Kieswege schlenderten und die schimmernden Marmorsteine der Grabstätten betrachteten. Schließlich blieben sie vor einem Grabmal stehen, welches allein durch Form und Gestaltung vollkommen aus dem Rahmen fiel. Es ähnelte eher einem künstlerischen Monument als einem Grab, war aber eindeutig die letzte Ruhestätte eines längst verstorbenen Edelmannes. Eine große kniende Frauengestalt, aus strahlend weißem Marmor gearbeitet, hielt eine ebenfalls marmorne Schale in Händen, in welcher ein zerbrochenes Marmorherz neben einer verwelkt aussehenden Marmor-Rose lag.
Vincent hob den Blick, um das Gesicht der Frau zu betrachten, und fühlte sein eigenes Herz für eine Sekunde aussetzen, denn Celiskas empfindsame Züge schienen wie durch Zauberhand auf die Marmorfrau übertragen worden zu sein. Selbst die feinen Linien ihres Halses, die Kontur der entblößten Schultern und der Ansatz ihrer Brüste waren identisch. Der Künstler, der diese Figur geschaffen hatte, musste in der Tat sehr viel Geduld und Hingabe aufgewendet haben, um die zahlreichen Falten des langen Gewandes und die feingliedrigen nackten Füße auszuarbeiten, stellte er anerkennend fest. Wäre man nicht sicher gewesen, eine Skulptur anzuschauen, hätte man meinen können, man habe ein lebendiges Wesen vor sich. Das Gesicht zeigte eine auf sehr unheimliche Weise real wirkende Miene, der eine tiefe Melancholie zu entnehmen war, so wie die gesamte Haltung des aus kaltem Stein gemeißelten Körpers zwar einen gewissen Stolz, aber auch Resignation vermittelte.
Celiskas schweren Atem im Ohr, der zeigte, wie erschrocken sie in diesem Moment über den Anblick ihres eigenen in Stein gemeißelten Gesichtes war, zog Vincent sie noch ein wenig fester an sich, vermochte jedoch nicht die Augen von der Skulptur zu lösen, deren Anblick ihn unendlich traurig machte.
„Master Stewart ist in der Tat an seinem gebrochenen Herzen gestorben.“ Der uralte Mann, der plötzlich neben ihnen stand, schien buchstäblich an die hundert Jahre alt, denn die Haut, welche sich über den haarlosen Schädel und die Kanten seines mageren Antlitzes spannte, erinnerte an
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