Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
ist nicht kalt.«
Ganz in ihrer Nähe rutschte ein feuchtes Schneebrett ab. Die milde Luft entkleidete die Tannenzweige ihres makellos weißen Schmucks. Von hier aus konnten sie die Stadt und ihre Vororte bewundern. Südwestlich der Stadtmauern lag, ganz am Ende des gewundenen, steilen Wegs, der in die Berge führte, Saint-Joseph zu ihren Füßen. Von der Stadt aus gelangte man durch die Porte des Récollects dorthin. Wenn man gen Nordosten sah, konnte man die Ufer des Saint-Laurent mit ihren Obstgärten erkennen, deren Duft sich bald über die Landschaft verbreiten würde. Dann würde Isabelle mit Gabriel zum Picknicken hinausspazieren. Der kleine Junge liebte es, sich in der Natur aufzuhalten und den Schmetterlingen nachzulaufen.
Isabelles Blick folgte dem schmalen, vereisten Lauf des Petite Rivière, der an den Stadtmauern entlangfloss, und erreichte die Vorstadt Québec, die von kleinen Mooren und Feldern, die unter dem Schnee schliefen, umgeben war. Der Name erinnerte sie an ihre Heimatstadt, die sie so sehr vermisste, mit ihren Gezeiten, ihrem leicht salzig duftenden Wind und der großen Île d’Orléans. In ein paar Wochen würde sie endlich einen Besuch dort machen, zum ersten Mal seit über drei Jahren. Gabriel war jetzt groß genug, um eine so lange Reise zu verkraften.
Pierre schmiegte sich an sie und streichelte mit seiner behandschuhten Hand ihre Schultern und ihren Nacken. Sie spürte, wie sein warmer, fester Körper sich an sie presste. In den Salons von Montréal war Madame Larue Gegenstand des Neides, weil es ihr gelungen war, sich diesen Mann zu angeln. Sie wusste genau, dass man sich über die vergangenen Abenteuer des attraktiven Notars die Mäuler zerriss. So hatte sie erfahren, dass Pierre früher ein rechter Schürzenjäger gewesen war. Es verdross sie ein wenig, dass einige dieser Frauen ihren Mann genauso »intim« kannten wie sie. Nicht, dass sie eifersüchtig gewesen wäre, aber es war ihr peinlich, dass sie den charmanten Damen der guten Gesellschaft ein Thema für ihre Scherze lieferte.
Mit lautem Gähnen tat sie ihr Bedürfnis nach Schlaf kund und sog zugleich die frische, nach Kiefernharz duftende Luft ein. Sie sah zu Pierre auf und begegnete seinem eindringlichen Blick. Seine Züge wirkten entspannt und sanft. Er legte die Lippen auf ihre Stirn und zog sie fest an sich.
»Ihr macht mich glücklich, Madame Larue. Ihr macht mich glücklich … Isabelle. Wusstet Ihr das? Habe ich Euch das schon gesagt?«
Der Klang seiner Stimme verriet ihr, dass er es ehrlich meinte.
»Nein … also, vielleicht …«, murmelte sie und schloss die brennenden Augen.
Sie hätte ihm gern auf die gleiche Weise geantwortet. Doch das gelang ihr nicht, sosehr sie sich auch bemühte.
»Ich liebe Euch, meine Süße, mein Engel … Ich liebe Euch wie die Morgendämmerung, mit der ein neuer Tag beginnt, oder wie eine Nacht voller Sterne. Ihr seid die Sonne meines Lebens, Isabelle …«
Unendlich sanft berührten seine Lippen Isabelles Mund. Rasch wurde sein zärtlicher Kuss fordernder. Verunsichert ließ die junge Frau sich von den Armen, die um ihre Taille lagen, davontragen. Pierres sinnliche Bewegungen riefen in ihr gegen ihren Willen Empfindungen hervor. Sie fühlte keine stürmische Liebe zu ihrem Mann, aber sie hasste ihn auch nicht. Obwohl sie sich dafür schämte, liebte sie seine Liebkosungen, das Gefühl seiner Hände auf ihrem Körper. Er verstand sich darauf, Begehren in ihr zu erwecken. Aber sie fühlte sich schuldig, weil sie bei einem anderen Mann als Alexander Lust empfand.
Trotz all ihrer Bemühungen gelang es ihr nicht, den Vater ihres Kindes zu vergessen. Aber liebte sie ihn wirklich immer noch? Oder pflegte sie insgeheim die Erinnerung an ihn, um ihren Groll zu nähren, weil man sie gezwungen hatte, ihn zu verlassen? In den Wochen nach ihrer Hochzeit mit Pierre Larue hatte sie gewartet, gehofft … Doch er hatte ihr kein Lebenszeichen gegeben und sie ihrem Schicksal überlassen. Sie begriff sein Verhalten nicht und war zutiefst betrübt darüber. Wenn er sie liebte, hätte er dann nicht versuchen müssen, sie wiederzusehen, sie zurückzuholen? Sie sagte sich, dass er es nicht wert war, dass angesichts ihrer Lage Pierre vielleicht das Beste gewesen war, was ihr passieren konnte. Bestimmt hatte Alexander von ihrer Heirat gehört und freute sich, dass er nicht eine Frau und ein Kind unterhalten musste. Dabei hatte sie ihn so sehr geliebt! Hatten die letzten Jahre die Wahrnehmung,
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