Hinter der Nacht (German Edition)
vorzustellen. „Er verschwindet aus ihrem Blickfeld, bis er wieder
runtergeht?“
„Genau. Und was
passiert mit ihm, wenn er sich in die Höhe bewegt? Wo ist er dann?“
„Na, in der Höhe
eben“, antwortete ich.
„Nur da?“ Er sah
mich an wie ein Lehrer einen Schüler, dem das Offensichtliche entgeht.
„Wo soll er denn
sonst noch sein?“, fragte ich verwirrt zurück. „Er kann doch nicht an zwei
Orten gleichzeitig sein, oder?“
„Eben“,
bestätigte Mike, „das kann er nicht.“ Sein Blick war triumphierend.
Da endlich
verstand ich, worauf er hinauswollte. „Du meinst also – für uns ist das
genauso? Dass man immer nur zu einer Zeit an einem Ort ist?“
„Existiert“,
präzisierte er. „Meine Theorie ist, dass man immer nur an einem Ort zu einer
Zeit existieren kann. Während wir jetzt hier sind, sind wir
nirgendwo anders. Jetzt und hier ist die einzige Wirklichkeit.“
„Und wenn wir
nach gestern zurückgehen, existieren die ursprüngliche, gestrige Clarissa und
der gestrige Mike nicht mehr? Nur noch wir heutigen? Und dafür gibt es uns
heuteaber nicht mehr?“ Mir schwirrte der Kopf. Das war zu hoch für
mich.
Aber Mike
nickte. „Genau. Sieh’s mal andersrum – du wunderst dich ja auch nicht, dass die
Clarissa und der Mike von morgen noch nicht existieren, oder?“
„Das stimmt,
aber…“
Er unterbrach
mich. „Und wenn du aufhörst, die Zeit als Linie zu betrachten, und stattdessen
akzeptierst, dass sie ein weiterer Raum ist, in dem es nicht nur eine Richtung
gibt, sondern wo alles gleichzeitig ist, dann ist es eben auch gleich, ob man
gestern oder morgen sagt. Und dann ist der Gedanke, dass man immer nur da
existiert, wo – und wann – man sich gerade befindet, doch eigentlich ganz
logisch.“
„Puh.“ Das war
ja verdammt kompliziert. Auch wenn es rein theoretisch halbwegs einleuchtend
klang. Aber was Mike da ausgeführt hatte, stellte einfach alles in Frage, was
ich mein ganzes Leben lang als feste Tatsachen akzeptiert hatte. Solche
Denkmuster konnte man wohl nicht so einfach von jetzt auf gleich ablegen. Ich
fühlte mich, als ob man mir den Boden unter den Füßen weggezogen hätte und
meine ganze Existenz in Frage gestellt wurde. Das Leben kam mir auf einmal viel
weniger wirklich vor, wenn ich mir vorstellte, dass mein gestriges Ich einfach
aufhörte zu existieren, wenn mein heutiges Ich sich dorthin begab. Denn
immerhin hatten wir genau das vor. Der Gedanke machte mir Angst. Was würden wir
vorfinden, wenn es uns tatsächlich gelang, an den Ort und in die Zeit des
Verbrechens zurückzukehren? An dem ich ja schließlich zu der Zeit auch gewesen
war? Was würde das für mich bedeuten? War unser Plan überhaupt durchführbar?
Mike zerstörte
meine Hoffnung, dass er auch dafür eine Lösung hatte. „Ich weiß es einfach
nicht, Clarissa. Ich weiß nicht, ob wir es schaffen können. Ich schätze, wir
müssen es einfach probieren.“
Aufbruch
Clarissa
Je mehr Zeit
verstrich, desto nervöser wurde ich. Die Hindernisse schienen nicht kleiner,
sondern größer zu werden, und ich sah mehr und mehr Probleme. Ich konnte nicht
mehr richtig schlafen, ich hatte keinen Appetit. Und Mike schien es ähnlich zu
gehen. Langsam fing ich an, zu befürchten, dass wir nur einem Hirngespinst
hinterher jagten. Wenn wir nicht bald etwas taten, wäre es zu spät, und das
hatte nichts mit der Zeit zu tun. Ich spürte, wie die Depression wieder anfing,
mich zu umschlingen.
Doch dann
geschah etwas, was uns zum Handeln zwang. Patti kehrte zurück.
Neben unseren
heimlichen Aktivitäten ließen Mike und ich große Vorsicht walten, was den
Anschein von Normalität betraf. Wir gingen regelmäßig zur Schule, auch wenn ich
kaum etwas vom Unterricht mitbekam, weil ich zuviel anderes hatte, über das ich
nachdenken musste, und, wenn das mal nicht der Fall war, einfach zu müde war,
denn meine Tage hatten inzwischen deutlich mehr als 24 Stunden, in denen ich
aber nur sehr sporadisch schlief. Und wenn, dann nach wie vor sehr unruhig und
von dem immer gleichen Alptraum heimgesucht, in dem jetzt regelmäßig Patti eine
Hauptrolle spielte.
Das einzige, was
mich an der Schule wirklich noch interessierte, war das Karatetraining. Ich
nahm es so ernst wie noch nie, denn im Gegensatz zu früher wusste ich, dass
vielleicht mein Leben – und das anderer – von meinen Kampfkünsten abhängen
würde. Auch wenn mir die anderen in der AG nach wie vor nicht wirklich
gewachsen waren, war es doch eine
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