Hochzeit im Herrenhaus
Annis nippte an dem Champagnerglas, das ein Lakai ihr soeben überreicht hatte. “Wissen Sie zufällig, ob auch der junge Thomas Marshal im Spielsalon sitzt, Colonel? Da er in der Greythorpe-Kutsche keinen Platz gefunden hat, ist er vorausgeritten. Das hat ihn nicht gestört, und er versicherte sogar, er würde sich sehr gern frischen Wind um die Nase wehen lassen.”
“Jetzt, wo du davon sprichst, meine Liebe … Ja, ich erinnere mich. Vor einer Weile sah ich den Jungen hereinkommen. Aber ich glaube, er schaut den Spielern nur zu.”
Dem Himmel sei Dank, dachte Annis erleichtert. Wenn sie ihr Versprechen, dem jungen Mann das Geld für die Begleichung seiner Schulden zu leihen, auch nicht bereute – einen unverbesserlichen Spieler wollte sie keineswegs unterstützen. Nun, ihre Sorge war anscheinend unbegründet. “Später werde ich vielleicht auch ein bisschen spielen, Colonel. Gibt es außer Charles Fanhopes Tisch noch einen, den ich besser meiden sollte?”
“Eigentlich nicht. Aber falls ich dir einen Rat geben darf, lass dich von unserer Gastgeberin nicht zur Partnerschaft beim Whist überreden. Im Gegensatz zu ihrem Sohn spielt sie miserabel.”
“Keine Bange, sie wird mich sicher nicht zur Partnerin erwählen. Allzu glücklich war sie nicht, als sie einen unerwarteten Gast der Greythorpes begrüßen musste.”
“Kein Wunder”, meinte der Colonel. “Dein Aufenthalt im Greythorpe Manor regt gewisse Leute zu Spekulationen an. Und da gibt’s einen ganz bestimmten Personenkreis, der deine Anwesenheit für eine Bedrohung hält. Gerade jetzt, wo man in wachsender Spannung auf eine Erklärung des Viscounts wartet …”
Was der alte Mann damit meinte, erriet sie mühelos, und Annis spürte, wie sich ihre Kehle verengte. “Also glauben Sie, Lord Greythorpe wird seine Absicht, Caroline Fanhope zu heiraten, öffentlich bekannt geben?”
“Drücken wir’s mal so aus, meine Liebe – es würde mich nicht überraschen. Obwohl Deverel und der alte Viscount nicht allzu gut miteinander auskamen, in manchen Dingen gerät der Junge ganz nach seinem Vater. Zum Beispiel würde er niemals gegen die Regeln der Schicklichkeit verstoßen. Deshalb hat er während der Trauerzeit auf einen Heiratsantrag verzichtet. Er ist schon sehr lange mit Caroline befreundet. Und soviel ich weiß, hat er bei seinen zahlreichen Saisons in London kein Interesse an anderen Mädchen gezeigt. Und so hofft man hier natürlich, dass er sich möglichst bald für eine passende Gemahlin entscheidet.”
“Ja, in der Tat”, stimmte Annis notgedrungen zu und bekämpfte die seltsamen schmerzlichen Gefühle in ihrer Brust. “Aber warum sollte ich diese Hoffnungen bedrohen? Einfach lächerlich!” Mit einer wegwerfenden Geste und einem erzwungenen Kichern unterstrich sie ihre Worte, was die Tochter des Hauses aufmerksam registrierte.
“Offenbar unterhält sich dein Gast sehr gut mit unserem Nachbarn, Deverel”, meinte Caroline.
Da war sich Greythorpe, der Annis diskret, aber wachsam im Auge behielt, nicht so sicher. “Sieht so aus. Wie ich zufällig weiß, kennen sich die beiden schon seit vielen Jahren. Und so müsste sich Hastie in Miss Milbanks Gesellschaft wohlfühlen, obwohl er sonst nicht viel mit weiblicher Gesellschaft anfangen kann. Außerdem lässt sie sich nicht so leicht schockieren, und sie ist auch nicht zimperlich, was einem Mann vom Kaliber des Colonels zweifellos gefällt. Übrigens auch anderen Männern.”
Dass er mit diesen Worten das besondere Interesse der Frau erregte, die er stets für überdurchschnittlich klug gehalten hatte, verblüffte ihn nicht. Ihre unverblümte Frage überraschte ihn ebenso wenig. “Heißt das, auch du schätzt Miss Milbanks Gesellschaft?”
“Allerdings, Caroline”, bestätigte er leise. Sobald sie die Lider senkte, wusste er Bescheid. Was seine Absichten anging, durfte er sich weitere Andeutungen ersparen, die waren überflüssig. Nachdem er die Hoffnungen der Frau, die er seit Jahren schätzte, zunichte gemacht hatte, empfand er weder Mitleid noch Reue. Vielmehr bewunderte er Caroline, weil sie die bittere Nachricht so würdevoll verkraftete.
Wie er es vorausgesehen hatte, wies ihre Miene nicht auf ein gebrochenes Herz hin. Ihr Wunsch, ihn zu heiraten, war keineswegs irgendwelchen tieferen Gefühlen entsprungen, sondern einfach nur dem Bestreben, die Erwartungen ihrer Familie zu erfüllen.
Und so plagte ihn kein schlechtes Gewissen, denn er hatte ihr niemals zu verstehen gegeben,
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