Höhenangst
um uns schnell etwas zu essen zu holen. Nachdem er die Stufen hinuntergepoltert war, wickelte ich mich in die Bettdecke, ging zum Fenster und schaute ihm nach, wie er auf die Straße hinaustrat, sich durch den Verkehr drängte und in Richtung Berwick Street Market verschwand. Nachdem er außer Sichtweite war, beobachtete ich die anderen Leute auf der Straße, die gehetzt irgendwelchen Zielen entgegeneilten oder gemächlich von Schaufenster zu Schaufenster bummelten. Wie konnten sie ohne die Leidenschaft leben, die ich empfand? Wie konnten sie es für wichtig halten, Karriere zu machen oder ihren Urlaub zu planen, obwohl doch das einzig Wichtige im Leben dieses Gefühl war – das Gefühl, das ich gerade empfand?
Alles in meinem Leben, was sich außerhalb dieses Raums in Soho abspielte, erschien mir völlig bedeutungslos. Die Arbeit war eine Farce, die ich für meine Kollegen inszenierte. Ich spielte die Rolle der geschäftigen, ehrgeizigen Managerin. Meine Freunde lagen mir nach wie vor am Herzen, ich wollte sie bloß nicht mehr sehen. Mein Zuhause kam mir vor wie ein Büro oder ein Waschsalon, ein Ort, an dem ich mich gelegentlich sehen lassen mußte, um einer Pflicht nachzukommen. Und Jake. Jake. Das war das Schlimme daran. Ich fühlte mich, als säße ich in einem führerlosen Zug. Irgendwo vor mir, einen Kilometer oder fünftausend Kilometer entfernt, lag die Endstation, wo mich Prellböcke und eine Katastrophe erwarteten, aber im Moment fühlte ich nur die berauschende Geschwindigkeit.
Adam kam wieder um die Ecke gebogen. Er blickte nach oben und sah mich am Fenster stehen. Statt zu lächeln oder zu winken, beschleunigte er seinen Schritt. Ich war sein Magnet, und er war meiner.
Als wir mit dem Essen fertig waren, leckte ich ihm das Tomatenmark von den Fingern.
»Weißt du, was ich an dir liebe? Unter anderem, meine ich.«
»Was?«
»Alle anderen Menschen, die ich kenne, tragen eine Art Uniform, zu der alles mögliche gehört: Schlüssel, Brieftasche, Kreditkarten. Bei dir hat man das Gefühl, als wärst du gerade nackt von einem anderen Planeten gefallen und bloß rasch in irgendwelche Klamotten geschlüpft.«
»Soll ich etwas anderes anziehen?«
»Nein, aber …«
»Aber was?«
»Als du gerade draußen warst, habe ich dir nachgesehen.
Dabei ist mir durch den Kopf gegangen, daß ich das eigentlich wunderbar finde.«
»Dann ist es ja gut«, meinte Adam.
»Ja, aber ich nehme an, insgeheim habe ich auch daran gedacht, daß wir eines Tages dort hinaus müssen, hinaus in die Welt. Ich meine, wir beide zusammen, in irgendeiner Form. Wir werden bestimmte Dinge tun, uns mit anderen Leuten auseinandersetzen müssen.« Sogar in meinen eigenen Ohren klangen meine Worte seltsam, als spräche ich über die Vertreibung aus dem Paradies.
Plötzlich empfand ich ein Gefühl von Panik.
»Das hängt natürlich auch davon ab, was du möchtest.«
Adam runzelte die Stirn.
»Ich möchte dich«, antwortete er.
»Ja«, sagte ich, ohne zu wissen, was dieses Ja bedeutete.
Lange Zeit schwiegen wir beide, bis ich schließlich sagte:
»Du weißt so wenig über mich, und ich weiß so wenig über dich. Wir kommen aus verschiedenen Welten.«
Adam zuckte mit den Achseln. Seiner Meinung nach spielte das alles keine Rolle – meine Lebensumstände, mein Beruf, meine Freunde, meine politische Einstellung, meine moralischen Ansichten, meine Vergangenheit –, nichts davon. Für ihn gab es eine Alice-Essenz, die er erkannt zu haben glaubte. In meinem anderen Leben hätte ich mit ihm heftig über seine mystische Vorstellung von der absoluten Liebe diskutiert, denn ich war immer der Meinung gewesen, Liebe sei etwas Biologisches, Darwinsches, Pragmatisches, von äußeren Umständen Abhängiges, etwas, das leicht zerbrechen konnte und mühsam gepflegt werden mußte. Inzwischen aber fühlte ich mich so berauscht und losgelöst, daß ich mich gar nicht mehr richtig erinnern konnte, wie ich eigentlich über dieses Thema gedacht hatte. Es war, als würde ich die Liebe plötzlich wieder so sehen wie damals als Kind: als etwas, das einen aus der realen Welt rettete. Deswegen sagte ich bloß: »Ich kann es einfach nicht glauben. Ich meine, ich weiß nicht mal, was ich dich fragen soll.«
Adam streichelte mir übers Haar. Ich schauderte.
»Warum willst du mich etwas fragen?« antwortete er.
»Willst du denn gar nichts von mir wissen? Interessiert es dich nicht, was ich beruflich mache?«
»Erzähl mir, was du beruflich machst.«
»Im
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