Im Land der gefiederten Schlange
Lagerhäuser befanden sich so gut wie alle im Hafen, doch ein einziges gab es, das nicht weit von den Wohnhäusern am oberen Rand der Siedlung stand. Es wurde nur im Notfall benutzt, wenn ein Überschuss an Waren anders nicht gelagert werden konnte, und dort herumzulaufen war den Kindern streng verboten. Der Reiz des Verbotenen hatte jedoch auf Katharina stets eine unwiderstehliche Wirkung ausgeübt.
Jetzt stand sie vor dem alten Kontor, das einem scheußlichen Gefängnis glich, und schaute der Handvoll Männer zu, die mit Karren oder Rückentragen hinaus- und hineingingen. Kein Einziger mit heller Haut war darunter, sie alle hatten die hohen Wangenknochen und dunklen Augen der Indios. Als Katharina einen von ihnen ansprach, senkte er rasch den Blick und ging weiter, als hätte er sie nicht bemerkt.
Sie versuchte es ein zweites Mal. Dasselbe geschah.
Ein dritter, älterer Mann, der sie offenbar beobachtet hatte, blieb mit einem Maultier am Zügel stehen. »Sie sollten das nicht tun, Señorita«, sagte er. Sein Spanisch klang schwer, wie ein langsam rollender Sturm. »Den Männern bringt es Ärger, wenn sie mit Ihnen sprechen. Und Ihnen bekommt es auch nicht gut.«
»Aber ich will doch nur etwas fragen!«, rief Katharina empört. »Mein Freund Ben und ich sind bei seiner Mutter eingeladen, aber ich habe ihn verpasst, und jetzt weiß ich nicht, wohin ich gehen soll.« Wie zum Beweis schüttelte sie die Blumen vor des Mannes Gesicht. Dass ein deutsches Mädchen nicht log, fiel ihr ein, doch allmählich fragte sie sich, ob ein deutsches Mädchen mit seiner Wahrheitsliebe überhaupt jemals erreichte, was es wollte.
Der Mann musste lachen. »Ich glaube Ihnen kein Wort«, bekundete er. »Und ich will nachher nicht der sein, der seine Arbeit verliert, weil er Ihnen etwas gesagt hat, von dem Sie besser nichts wissen sollten.« Er bückte sich ein wenig, um mit Katharina auf Augenhöhe zu gelangen, und hörte auf, sie wie eine Herrin anzusprechen. »Ich rate dir, dies hier bleibenzulassen, Niña. Willst du, dass sich der junge Benito, den du deinen Freund nennst, Schwierigkeiten einfängt? Nein? Na also. Dann hältst du dich besser von ihm fern.«
»Ja, ja, ein jeder bleibt in seiner eigenen Welt«, fauchte Katharina. »Du redest wie mein Vater, so wie sie alle reden, aber was wisst ihr denn von Ben und mir und unserer Welt? Wenn du mir nicht helfen willst, suche ich mir den Weg eben allein. Irgendwo am Malecon wird die Mutter wohl wohnen, denn von dort halten sie mich ja auch fern, als ob’s die Hölle wäre.«
Sie wirbelte herum und wollte losstapfen, doch der Mann packte sie am Arm und hielt sie zurück. »Warte, du verrückter Heuschreck. Du kannst nicht alleine auf den Malecon.«
»Ich kann dieses nicht, ich kann jenes nicht – ich habe eure ganzen Du-kannst-nicht satt. Was glaubt ihr denn von mir? Dass ich nichts kann, als vor dem blöden Cembalo zu sitzen und ›Jetzt fängt das schöne Frühjahr an‹ zu klimpern, obwohl längst August ist und die Mutter immer schimpft, im Frühjahr ist’s ihr zu schwül?«
Sie wollte sich losreißen, aber der Mann zog sie herum und wies die Gasse hinunter, fort vom Malecon. Aus seinem Gesicht war alle Heiterkeit gewichen. »Geh dort entlang. Nur geradeaus, immer weiter, auch wenn die Straße endet und du im Schlamm waten musst. Dort draußen vor der Stadt wohnen wir alle. Auch Anna Alvarez, Benitos Mutter. Wenn du dort nicht bekommst, was du willst, kannst du mich ans Messer liefern, aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Damit ließ er sie los, sprach ein paar Worte zu dem Maultier und trottete davon. Katharina blieb stehen und rieb sich den Arm. Dann schüttelte sie die Verwirrung ab und machte sich auf den Weg, an dem mannshohen Strauch vorbei und hinaus in die Welt.
Sie hatte so schnell wie möglich ihr Ziel erreichen wollen. Jetzt aber, da sie die verschlammte Lehmstraße erreichte, von der der Mann gesprochen hatte, geriet sie ins Trödeln, weil es so viel zu sehen gab. Sooft das Gedränge von Gebäuden aufriss und den Blick in die Weite freigab, blitzte silberblau eine Kette scharf gezackter Berge auf, wie um der Welt eine Grenze zu setzen. Lag etwas dahinter? Lebten dort Menschen, und sahen sie anders aus als hier? Eine Sehnsucht ergriff Katharina, die sich kaum bezähmen ließ. Wie weit dieses Land war, wie viele Geheimnisse es barg! All die Geschichten, die Ben ihr erzählt hatte, erwachten zum Leben – Geschichten von Bäumen, die alt wie die Welt
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