Im Land der Mond-Orchidee
er. »Gut, weil ich nicht mehr
befürchten muss, an der Wunde zu sterben, und schlecht, weil meine Eltern jetzt
darauf bestehen werden, mich mit nach Haus zu nehmen. Sie wollen morgen schon
kommen.«
Neele empfand einen Stich im Herzen. Sie wusste, dass es nicht den
geringsten Sinn hatte, ihn zu bedrängen, er möge hierbleiben. Er hatte seiner
Familie versprochen, nach Hause zu kommen, sobald er es ohne Gefahr tun konnte,
und er würde dieses Versprechen halten.
Mit leiser Stimme sagte sie: »Sie werden nicht erlauben, dass ich
dich besuche.«
»Nein. In seinem Haus ist mein Vater der Herr, und er wird dir den
Zutritt verweigern. Aber sei nicht traurig. Sobald ich wieder gesund bin,
führen wir unser Leben so, wie wir es uns vorstellen.«
»Was werden sie tun, wenn du nach Australien gehst?«
Er seufzte. »Ich denke, sie werden im Grunde recht froh sein, dass
ich aus dem Haus bin. Sie haben mir schon mehrmals versteckte Angebote gemacht,
mir eine reichliche Apanage auszusetzen, wenn ich Java verlasse, aber ich habe
nie angenommen. Allein zu gehen hätte bedeutet, mit einem Schlag völlig
vereinsamt zu sein. Aber jetzt, wo ich dich habe â¦Â«
Neele legte ihre beiden Hände um seine Rechte, zog seine Finger an
den Mund und küsste sie.
Tatsächlich kam Ameyas Familie am nächsten Tag zum Waisenhaus.
Niemand hinderte sie daran, den Patienten mitzunehmen. Neele stand in einiger
Entfernung und beobachtete, wie sie ihn hinaustrugen und fürsorglich auf die
Kissen einer Sänfte betteten, die von vier Dienern getragen wurde. Sie musste
zugeben, dass seine Verwandten aufs Beste für ihn sorgen würden. Zweifellos
empfanden sie zärtliche Zuneigung zu ihm. Aber was nützte ihm das, wenn sie ihn
gleichzeitig fürchteten?
Am liebsten wäre sie hingelaufen und hätte gerufen: Seid nicht so
albern! Wie könnt ihr glauben, euer Sohn, euer Bruder sei ein wildes Tier? Wie
könnt ihr ihn fürchten, der unter eurem Dach herangewachsen ist? Er ist ein
Mensch wie wir alle und ein guter und kluger Mensch dazu, habt
doch keine Angst vor ihm!
Aber sie wusste, es würde nichts nützen. Ein über Jahrhunderte
hinweg eingewurzelter Aberglaube lieà sich so wenig ausreiÃen wie ein
Banyanbaum.
Um keinen Ãrger zu verursachen, winkte sie ihm nur von der Ferne zu,
als die Diener ihn hinaustrugen und die Karawane seiner Familie sich die
BergstraÃe hinab in Bewegung setzte. Dann drehte sie sich um und kehrte mit
nassen Augen ins Haus zurück.
Der Nachmittag dieses Tages brachte eine geringfügige Aufheiterung
ihrer schwarz bewölkten Stimmung. Lennert, der einen Besuch im Gefängnis für
Europäer gemacht hatte, kehrte mit der Nachricht zurück, dass der
Untersuchungsrichter Jürgen aus der Haft entlassen hatte, da es keine
stichhaltigen Beweise gegen ihn gab. Die weniger erfreuliche Seite dieser
Nachricht war, dass auch Jürgen überzeugt war, Neele habe ihn ins Gefängnis gebracht,
und in dumpfer Wut vor sich hin brütete. Von der Liebe, die er so oft
beschworen hatte, war keine Rede mehr. Obwohl Lennert sich bemühte, Neele eine
bereinigte Version ihres Gesprächs zu überbringen, war ihr doch klar, dass er
sie aufs Ãbelste beschimpft hatte und sich als das Opfer einer Frau
betrachtete, die ihn erst mit einem anderen betrogen und dann den Behörden in
die Hände gespielt hatte â für eine Tat, an der er völlig unschuldig war! Nur
um ihn loszuwerden, damit sie ihre schmutzige Affäre mit dem Pfefferfresser
genieÃen konnte!
»Ich habe versucht, ihn zur Vernunft zu bringen, aber es ist mir
nicht gelungen«, gestand Lennert. »Du weiÃt ja, wenn Jürgen sich etwas in den
Kopf setzt, dann weicht er davon nicht mehr ab. Er sieht die Wirklichkeit so,
wie er sie gerne sehen möchte.«
Neele nickte bedrückt. »So war er immer schon.«
Sie wusste nicht recht, ob sie Ãrger oder Erleichterung angesichts dieser
Wendung der Dinge empfand. Sie war froh gewesen, dass Jürgen im Gefängnis saÃ
und ihr nicht mehr über den Weg laufen konnte. Aber zugleich hatte sie sich
Sorgen um ihn gemacht. Sie hatte nicht daran denken wollen, dass die Holländer
ihn verurteilen und hängen könnten, womöglich für eine Tat, die er nicht
begangen hatte.
»Was wird er jetzt tun?«, fragte sie.
Lennert zuckte die Achseln. »Er wollte zurück zu den Hagedorns, aber
ich weiÃ
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