Im Schatten der Akazie
Ziel, als Ramses sich gerade in seiner Kajüte aufhielt, verlangsamte das Boot seine Fahrt.
Der König eilte hinaus und erkundigte sich beim Schiffsführer nach dem Grund.
»An der Uferböschung tummelt sich eine ganze Armee von Krokodilen, alle nahezu fünfzehn Ellen lang. Außerdem wimmelt es im Wasser von Flußpferden. Fürs erste können wir nicht weiter. Ich rate Deiner Majestät sogar, an Land zu gehen.
Die Tiere wirken unruhig, sie könnten uns angreifen.«
»Setze die Fahrt ohne Furcht fort.«
»Majestät, ich versichere dir …«
»Nubien ist ein Land voller Wunder.«
Den Ruderern waren die Kehlen wie zugeschnürt, als sie 313
wieder zu den Riemen griffen.
Die Flußpferde gerieten in noch größere Erregung. Auf dem Ufer peitschte ein riesiges Krokodil mit dem Schwanz durch die Luft, schnellte im Nu mehrere Schritt weit vor und hielt wieder inne.
Noch ehe er ihn sehen konnte, hatte Ramses die Gegenwart seines Verbündeten gespürt: Ein gewaltiger Elefantenbulle schob mit dem Rüssel die tiefhängenden Zweige einer Akazie beiseite und stieß ein Trompeten aus, das Hunderte von Vögeln aufflattern und die Schiffer vor Schreck erstarren ließ.
Manche Krokodile flüchteten ins ufernahe Schilf, andere stürzten sich auf die Flußpferde, die sich kräftig zur Wehr setzten. Es kam zu einem kurzen, heftigen Kampf, dann kehrte im Nil wieder Ruhe ein.
Der Elefant trompetete ein zweites Mal, um Ramses zu begrüßen, der ihm zuwinkte. Viele Jahre war es her, daß Sethos’ Sohn das damals noch sehr junge, verletzte Tier gerettet hatte. Zu einem mächtigen Bullen mit großen Ohren und schweren Stoßzähnen herangewachsen, kam ihm der Elefant jedesmal zu Hilfe, wenn Ramses seiner bedurfte.
»Sollte man dieses Ungetüm nicht einfangen und nach Ägypten mitnehmen?« regte der Schiffsführer an.
»Halte die Freiheit in Ehren und hüte dich, ihr Fesseln anzulegen.«
Eine kleine Bucht, zwei stark vorspringende Felsen, zwischen ihnen eine mit goldgelbem Sand gefüllte Talmulde, Akazien, deren Wohlgeruch die Luft erfüllte, die verführerische Schönheit des nubischen Sandsteins … Beim Anblick von Abu Simbel wurde Ramses das Herz schwer. Hier hatte er zwei Tempel anlegen lassen, die Verkörperung jener Einheit des Königspaares, die er für immer mit Nefertari bilden würde.
Wie der König bereits befürchtet hatte, enthielt Setaous Sendschreiben keinerlei Übertreibung. Die Stätte war in der 314
Tat Opfer eines Erdbebens geworden. Der Kopf einer der vier kolossalen Sitzstatuen war samt einem Teil des Oberkörpers in die Tiefe gestürzt.
Setaou und Lotos empfingen den Herrscher.
»Hat es Verletzte gegeben?« fragte Ramses.
»Zwei Tote: der Vizekönig und ein erst jüngst aus dem Gefängnis entlassener Nubier.«
»Was hatten die beiden miteinander zu tun?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sind im Inneren der Tempel Schäden entstanden?«
»Sieh es dir selbst an.«
Ramses betrat das Heiligtum. Die Steinmetzen waren bereits an der Arbeit. Sie hatten die beschädigten Pfeiler des großen Saales abgestützt und diejenigen, die umzustürzen drohten, wieder aufgerichtet.
»Hat Nefertaris Tempel ebenfalls Schaden gelitten?«
»Nein, Majestät.«
»Den Göttern sei Dank, Setaou.«
»Die Arbeiten werden zügig vorangetrieben, und hier drinnen sind die Spuren dieses Unglücks bald beseitigt. Bei dem Koloß wird das schwieriger werden. Ich habe dir verschiedene Vorschläge zu machen.«
»Versuche nicht, ihn instand zu setzen.«
»Du … du wirst doch die Fassade nicht in diesem Zustand lassen wollen?«
»Dieses Beben war eine Botschaft des Gottes der Erde, und wenn er die Fassade neu geformt hat, werden wir uns seinem Willen nicht widersetzen.«
Die Entscheidung des Pharaos hatte Setaou entrüstet, aber Ramses blieb unbeugsam. Fortan würden nur noch drei 315
Kolosse den königlichen Ka in sich tragen. Verstümmelt sollte der vierte Zeugnis ablegen vom Verfall und von der Unvollkommenheit, die jedwedem Menschenwerk innewohnen. Der zerbrochene steinerne Riese, der die Erhabenheit der gesamten Ansicht keineswegs beeinträchtigte, brachte die Wirkung seiner drei Gefährten nur um so deutlicher zur Geltung.
Der König, Setaou und Lotos speisten gemeinsam unter einer Palme. Der Schlangenkundige forderte den Herrscher nicht auf, sich mit Teufelsdreck einzureiben, dem Gummiharz des Persischen Stinkasants, dessen widerwärtiger Geruch gefährliche Kriechtiere vertrieb, sondern er bot ihm die roten Früchte eines
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