Im Schatten des Münsters - Buthe, H: Im Schatten des Münsters
sehen. Gute Nacht.«
Zornig startete ich den Wagen und beschleunigte, dass die Tür von selbst zufiel.
»Dreckspatz, verdammter«, schrie ich die Musik aus dem Radio nieder.
Irritiert reihte ich mich in den Verkehr ein und fand mich nach ein paar Minuten an der Deutsch-Schweizer Grenze wieder.
»Haben Sie etwas anzumelden?«, holte mich der Schweizer Zöllner ins Jetzt zurück. Ich schüttelte den Kopf.
»Sie benötigen eine Vignette.«
Bevor ich reagieren konnte, hatte er mir das Ding innen an die Windschutzscheibe geklebt.
»Ich will das Ding nicht. Ich will überhaupt nicht in die Schweiz«, fuhr ich ihn an, als er vierzig Franken verlangte. »Das sind doch Raubritter-Methoden ...«
Mein Handy summte, der Zöllner hielt mir immer noch seine offene Hand vors Gesicht.
»Geben Sie ihm dreißig Euro«, drang eine Stimme aus dem Handy. »Wir können keinen Ärger gebrauchen. Und fahren Sie zurück. Sie erhalten weitere Anweisungen.«
Es war die gleiche Stimme, die mich vorher angerufen hatte. Wenn Enrico verhaftet war, wer war er? Wie es aussah, ließ er mich keinen Moment aus den Augen.
Der Verkehr in nördliche Richtung war schwach. Nur die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn hinderte mich, meinen Zorn in Vollgas umzusetzen.
Nach zirka hundert Kilometern meldete sich mein »Begleiter« wieder.
»Nehmen Sie die Ausfahrt Kehl-Strasbourg. Fahren Sie über die Europabrücke nach Strasbourg und warten dort gleich nach der Grenze vor der Touristeninformation.«
Ich wollte etwas sagen. Irgend etwas, um meine Anspannung loszuwerden. Dann war die Verbindung bereits wieder abgebrochen.
Bevor ich den Übergang erreichte, steuerte ich die »letzte Tankstelle vor der Grenze« an. Trotzig aß ich im Bistro eine Pizza und gönnte mir eine Flasche Bier. Mit einem Zigarillo und einer Tasse Kaffee ließ ich mir besonders viel Zeit, denn mir schien, dass der Unbekannte es sehr genau mit der Zeit nahm. Es war noch eine Stunde bis zum Ablauf des Ultimatums. Und wenn nicht, dann sollte er jetzt warten.
Straßburg. Oder Strasbourg, wie die Franzosen sagen. Auch eine Münsterstadt, mit einer nahezu identischen Geschichte und, wie ich mich erinnerte, einer ähnlichen Konstellation der Gastronomie um die Kathedrale.
Mich fröstelte, obwohl es ein warmer Spätsommerabend war. Die Luft roch modrig und doch scharf.
Sie roch nach dem Fluss, der 1801 im Lun´eviller Frieden zur endgültigen Grenze zwischen Frankreich und Habsburg geworden war und somit die Ereignisse heraufbeschworen hatte, die zweihundert Jahre später zu Mord, Entführung, Sabotage, Missgunst und Habgier führten. Der Rhein hatte die Zeit nicht hinweggespült. Er hatte sie als Sediment an seinen Ufern abgelagert, aus dem jederzeit neues Unheil erwachsen konnte.
Warum fiel mir das Lied »Sechzig Jahre und kein bisschen weise, aus gehabtem Schaden nichts gelernt« ein?
Frau Hofmann hatte es bestens formuliert und gleich selbst den Beweis erbracht. Wir können aus der Geschichte nichts lernen. Sie ist uns zu bekannt ...
Im Schritttempo überquerte ich die Grenze. Die Zöllner auf beiden Seiten hatten sich in ihre Glaskästen zurückgezogen und machten keine Anstalten, Fahrzeuge oder Fußgänger zu kontrollieren.
Nach zweihundert Metern stand das schwach beleuchtete Info-Center zwischen den Fahrbahnen.
Kaum hatte ich unter einer Laterne geparkt, meldete sich der Unbekannte, und ein Taxi fuhr vor.
»Nehmen Sie das Taxi. Der Fahrer weiß, wohin.«
Noch zehn Minuten bis Mitternacht. Langsam kroch doch etwas wie Unwohlsein in mir hoch.
Der Unbekannte kannte jede meiner Bewegungen. Ich wusste nur, dass Enrico es nicht war, der mich wie einen dressierten Hund an der Leine durch das halbe Land führte.
Von irgendwoher schlug eine Glocke Mitternacht, als mich der Fahrer am Münster absetzte.
»Gehen Sie auf die Orgel, und warten Sie«, gab er mir in elsässischem Dialekt die Anweisung.
Ich strebte einem offenen Portal zu, aus dem Menschen quollen, und arbeitete mich durch die Menge hindurch ins Innere vor.
An einer Anschlagtafel nahm ich flüchtig wahr, dass es sich um ein Mitternachts-Konzert gehandelt hatte.
Der Aufgang zur Orgel war schnell gefunden. Die Baumeister jener Zeit mussten schon standardisierte Baupläne für alle Sakralbauten auf ihrer Wanderschaft gehabt haben.
Der Organist hatte mich erwartet. Er taxierte mich kurz und warf einen prüfenden Blick über die Brüstung. Zufrieden nickte er und bedeutete mir, ihm zu folgen.
Er schob ein
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