In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
aus. Das genaue Gegenteil von Evelyn.
»Ich kenne nicht einmal deinen Namen«, fiel mir ein.
»Tina«, sagte sie, lächelte und reichte mir die Hand.
»Ich bin Marek. Eigentlich Jan-Marek.«
Ich gab mich nonchalant. Doch sie konnte sehen, dass ich immer noch durcheinander war. Sie sah durch mich hindurch.
»Ein Riss in der Zeit...«
»Wie?«
»Mir kam es vor wie ein Riss in der Zeit«, erklärte sie. »Als ich in die erste Schlägerei hineingeriet, ging es mir genauso. Ich hatte einen gebrochenen Finger, drei angeknackste Rippen und zwei Zähne verloren. Ich zitterte wie ein gehetztes Tier. Und dabei hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre auf diesen Augenblick vorbereitet.«
»Es ist seltsam«, sagte ich. »Ein Teil von mir ist ok. Ganz normal. Hey, es ist passiert. Jetzt habe ich es hinter mir. Aber ein anderer Teil von mir ist noch immer da, in diesem Scheinwerferlicht, und kommt nicht weg.«
Ich blickte verlegen auf meine Hände.
»Wer waren die Typen?«
»Ich weiß es nicht. Die wollten mich ausnehmen«, log ich. »Hast du den einen...?«
Sie lächelte. »Nein. Aber seine Nase braucht einige Korrekturen.«
»Er musste doch viel stärker sein als du.«
»Er war garantiert viel stärker. Ich werde ihn anrufen, wenn ich mal wieder umziehe«, sagte sie und lachte.
»Du warst schneller...«
»Ich war schneller, aber schneller gegen stärker ist keine Garantie für den Sieg.«
»Was dann?«
»Musashi Miyamoto sagt: Eile ist auch Leichtsinn. Lasse zu, dass der Gegner überstürzt ist. Doch nur um es selbst nicht zu sein. Und davor sagt er, dass es der bessere Rhythmus ist, der den Sieg bringt, nicht die übertriebene Stärke und die übertriebene Geschwindigkeit. «
Es war eine unwirkliche Situation. Sie sprach über einen japanischen Schwertmeister, statt nun endlich mit mir die Polizei anzurufen. Ich war froh, dass mir die Ausreden erspart blieben. Ich lebte nicht in dieser Welt. Ich war woanders. Fern des Gemeinwesens. Fern der Regeln. Fern der Sicherheit und der Geborgenheit. Fern der Ansprüche. Fern der Schuldzuweisungen. Es gab nur noch Rätsel.
Warum aber kam sie nicht auf die Polizei? Ich wusste, dass kampfsporterfahrene Menschen oft einen schweren Stand vor Gerichten haben, sogar wenn sie im Recht zu sind. Auf dem Kiez rief man wohl nicht zu jeder blutigen Nase die Polizei.
Sie stellte plötzlich das Glas hin. Für einen mikroskopisch kleinen, von meinem abgrundschlechten Charakter beseelten Augenblick, dachte ich, dass nun etwas Aufregendes passieren würde.
»Ich muss dich jetzt rausschmeißen, Marek«, sagte Tina und lächelte noch eine Spur freundlicher. »Ich bin müde und möchte endlich pennen gehen.«
Sie war sehr höflich und hilfsbereit, wie die Verkäuferin in einem Dessousladen. Aber als Kunde landet man noch lange nicht mit der Verkäuferin im Bett, nur weil man ständig von ihr angelächelt wird. Eigentlich ein wenig ungerecht.
»Wenn Ärger im Anmarsch ist, klopf an die Wand«, gab sie mir auf den Weg, und ich wusste nicht, ob das ironisch gemeint war.
Bevor ich mich richtig versah, stand ich draußen im Treppenhaus. Was hatte ich erwartet? Dass sie sich mit mir die ganze Nacht besäuft und sich dann von mir lecken lässt? Guess again!
Ich ließ mich rückwärts auf mein Bett fallen und starrte auf die Decke. Ich sollte nun meine Sachen packen und fliehen. Jetzt, in eben diesem Augenblick. Mit nur einer leichten Tasche und dem restlichen Geld. Die Wohnung war vermutlich nicht mehr sicher. Jemand kannte mehr von meinem Geheimnis als ich selbst. Ich dachte an Evelyn und Tina — meine einzigen richtigen Freunde hier in Hamburg. Ich hatte kein Recht, sie noch tiefer in meine Probleme hineinzuziehen.
Die beiden Schläger konnten jeden Augenblick die Tür aufstoßen und das zu Ende bringen, was Tina unterbrochen hatte. Vielleicht hatte sie einen tiefen Schlaf und würde ein zweites Mal nicht zur Stelle sein. Vielleicht kamen sie diesmal mit Uzis und schossen auf alles, das sich bewegte.
Ich stand auf und schleppte mich zur Wohnungstür. Mein Gehirn war hellwach und vollkommen aufgedreht, doch mein Körper war erschöpft und versuchte mir trotzig den Dienst zu versagen. Ich schob das Sofa fünf Meter durch den Raum und parkte es direkt vor der Tür. Dann legte ich einen Teller auf den Sofarand, der sofort umfiel und zu Boden stürzte, falls jemand das Sofa bewegte.
Ich holte die Bücher, die ich am Münchner Bahnhof aus dem Schließfach genommen hatte. Sie
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