In Gottes Namen
sich an Tränen – seine eigenen Tränen -, die ihr aufs Gesicht tropften, als sie zu ihm hochblickte. Beinahe hätte sie es geschafft, auch ihn einzuwickeln.
Zwei Jahre dauerte es – genau dreiundzwanzig Monate und sieben Tage -, er hatte an der Wand eine Strichliste geführt. Zwei Jahre, in denen er auf eine schwarze Tür starrte, sich mit anderen Häftlingen durch die Toilettenschüssel unterhielt, deren Abflussröhre mit denen aus den Nachbarzellen verbunden war. Zwei Jahre, in denen er unablässig grübelte, wie er an die Glühbirne in der Decke herankommen konnte, um seine Zigarettenstummel anzuzünden. Zwei Jahre, bis sie endlich kapierten, dass er richtig gehandelt hatte, und die blau uniformierten Männer ihn rausholten.
Er schließt die Augen, spürt, wie die Müdigkeit ihn übermannt, seine Augen sinken unter die Schatten seiner Lider.
Aber dann schlägt der Blitz ein, sein Magen, die brennende Säure.
Er krümmt sich, auch die gerissene Sehne schmerzt wieder, er kann sich nicht entspannen, kann nicht schlafen, nicht, bis sein Werk vollendet ist, nicht nach Evelyn, und dabei weiß er nicht mal, wo Brandon Mitchum lebt, es liegt noch viel Arbeit vor ihm, denn heute Nacht muss es passieren -
Leo erhebt sich vom Bett und geht zur Tür.
Nachdem wir den Interstate verlassen haben, beginnt Shelly mir Bettys ausgedruckte Wegbeschreibung vorzulesen. Ich kurve über ein paar Landstraßen, bis wir den Punkt erreichen, an dem sich die Wege zu Gwendolyns Haus und Gwendolyns Diner gabeln. Da es bereits halb drei ist, rufe ich im Diner an.
Die Frau am anderen Ende erklärt mir, Gwendolyn sei nicht da, also beschließe ich, zu ihrem Haus zu fahren.
Man muss sie unvorbereitet erwischen, erinnere ich mich an Stolettis Credo in puncto Zeugenvernehmungen. Ohne Vorankündigung. Gar keine schlechte Idee. Also werde ich Gwendolyn jetzt überfallartig heimsuchen und schauen, was ich dabei zu Tage fördere.
Die Straßen sind breit und schlecht beschildert. Ich fahre an Bäumen und etlichen Seen vorbei – Wischer von dunklem Braun, Grün und Blau. Der Himmel bewölkt sich zunehmend, trotzdem wirkt alles immer noch hell und strahlend. Da ich zwischen Hochhäusern lebe und arbeite, kriege ich normalerweise von diesen Dingen nicht allzu viel mit. Aber Shelly, die auf dem Land aufgewachsen ist, hat mir wieder und wieder davon erzählt – wie viel lichter und sauberer es außerhalb der Stadt ist. Es ist nicht so, dass ich nie aus der Stadt rausgekommen wäre, aber trotz meines Geldes habe ich mir nie einen Zweitwohnsitz auf dem Land zugelegt oder länger dort Ferien gemacht.
Bald ist die Straße nicht mehr asphaltiert, und die Beschilderung wird noch spärlicher. Nachdem wir dem kurvenreichen Verlauf des Schotterwegs eine Weile gefolgt sind, erreichen wir etwas, das Stadtmenschen wohl als eine Siedlung bezeichnen würden, ein großes Gelände, auf dem weit verstreut Holzhäuser und Hütten stehen und kleine Kinder in Badeanzügen umherrennen, verfolgt von kläffenden Hunden.
In der Hoffnung, dass wir am richtigen Ort gelandet sind, lenke ich in eine Auffahrt, bremse den Cadillac ab, und die Räder rutschen über knirschenden Kies. Das Anwesen ist bescheiden, nicht mehr als eine rustikale Blockhütte, von dichten Bäumen beschattet. Der Geruch von frisch gemähtem Gras mischt sich mit der sanften Seebrise. Ich strecke meine Beine, bevor ich auf die Hütte zumarschiere. Shelly blickt sich mit einem geradezu entrückten Ausdruck um. Ich schaue den Hang hinunter zum See, wo eine Frau auf einem Steg steht, mit einer Hand ihre Augen beschattet und zu mir heraufstarrt.
Natalia und Mia Lakes Mutter war eine russische Ballerina, eine wunderschöne Frau namens Nikita Kiri-irgendwas. Irgendwann lernte Nikita Conrad Lake kennen, den Erben der Lake’schen Minenbaugesellschaft, der sich in den Vierzigern im Mittleren Westen niedergelassen hatte. Die Legende besagt, dass Conrad die damals achtzehnjährige Nikita in Russland tanzen sah, um sie warb, sie kurz darauf heiratete und mit sich zurück in die Vereinigten Staaten nahm – natürlich nachdem er das sowjetische Politbüro ordentlich geschmiert hatte, um sie außer Landes bringen zu dürfen. Ihre Töchter Mia und Natalia erbten nicht nur ihr ganzes Geld, sondern auch viel von ihrer Schönheit – und gaben ihre fein gemeißelten Züge wiederum an ihre Töchter Gwendolyn und Cassandra weiter. Eine Beobachtung, die ich im Falle Cassies persönlich bestätigen kann, da mir im
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