Insel hinter dem Regenbogen (German Edition)
sie an. „Ich muss mit dieser Frau zusammenleben, Tracy, und meine Tochter ebenso. Hörst du Alice nachts weinen, weil ihr irgendetwas nicht mehr einfällt? Siehst du zu, wie sie irgendetwas tut und sich eine Stunde später nicht mehr daran erinnern kann? Die letzten zwei Nächte waren die Hölle. Sie ist unruhig umhergelaufen. Gestern Abend hat sie einen Wasserkessel aufgesetzt und ist dann aus dem Haus gegangen. Als ich ihr davon erzählte, behauptete sie, ich hätte mich geirrt, weil es doch viel zu heiß für Tee sei – und das alles, obwohl ein großer Becher mit Tee bereitstand, in den sie nur noch das Wasser gießen musste!“
„Und du willst damit sagen, dass das alles daran liegt, dass sie eine gute Lehrerin ist?“
„Sie kann den Stress nicht verarbeiten!“ Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar. Es war eine ungewöhnliche Geste, da sie die perfekte Symmetrie zerstörte.
„Aber Lee, sie wirkt nicht gestresst, wenn sie hier ist. Sicherlich war sie am ersten Tag ein bisschen nervös. Ich glaube, dass sie nicht sicher war, ob sie noch unterrichten konnte oder nicht. Als klar war, dass es noch ging, ist sie, na ja, aufgeblüht. Vielleicht willst du dir mal ein eigenes Bild machen? Du kannst durch die Tür gucken, um selbst zu sehen, wovon ich spreche. Sie liebt die Arbeit hier. Und wollen wir nicht beide das Beste für sie?“
„Ist das denn wirklich das, was du willst? Oder brauchst du nur jemanden, der dir aus der Patsche hilft?“
Das war unangenehm nah an der Wahrheit, und Tracy schwieg.
„Ich weiß nicht, was mit euch Frauen auf der Insel los ist. Ihr könnt die arme Alice offenbar einfach nicht in Ruhe lassen. Und jedes Mal, wenn sie mit euch zusammen war, kommt sie nach Hause und ist vollkommen aufgewühlt und durcheinander. Sie scheint sich sehr zusammenzureißen, wenn sie bei euch ist, denn wenn sie die Alice wäre, die sie in meinem Haus ist …“
„In deinem Haus?“ Die Worte waren ausgesprochen, ehe sie nachdenken konnte.
„Oh Mann. Du weißt, was ich meine.“
Wahrscheinlich wusste sie das. Vermutlich wusste Tracy es sogar zu genau. Denn hatte Lee nicht die Führung über Alices Haus und ihr Leben übernommen?
„Die Alice, die wir kennen, hat manchmal Wortfindungsschwierigkeiten. Aber sie schafft es immer, sich verständlich zu machen. Sie ist lustig und weise, und deine Tochter vergöttert sie. Das ist die einzige Alice, die wir sehen.“
„Du hast offensichtlich keine Ahnung, was Demenz bedeutet. Irgendwann erreicht die Krankheit ein Stadium, in dem man sie nicht mehr verbergen kann. Aber vorher kann der Kranke gut verschleiern, was er nicht mehr weiß. Alice kann so tun, als wüsste sie bestimmte Dinge noch oder könnte etwas begreifen. Aber kannst du dir den Druck vorstellen, unter dem sie deswegen steht? Darum bricht sie regelmäßig zusammen, wenn sie nach Hause kommt. Sie ist erschöpft. Und darum müsst ihr sie in Ruhe lassen.“
Tracy fragte sich, ob an Lees Beschreibung etwas Wahres sein konnte. Brach die Alice, die sie und die anderen Frauen sahen, möglicherweise tatsächlich zusammen, wenn sie nicht länger eine Fassade aufrechterhalten musste? War sie in einer Spirale gefangen, die unweigerlich abwärts führte, was ihnen erst später auffallen würde? Und machten sie Lee und Olivia in der Zwischenzeit das Leben noch schwerer, indem sie versuchten zu helfen?
Sie konnte es nicht glauben. Alice war gern im Freizeitzentrum, und sie war gern mit den anderen Frauen zusammen. Sie hatte den Samstagnachmittag am Strand ebenso genossen wie die anderen drei. Und sie hatte sie offensichtlich gern zu sich nach Hause eingeladen, um ihnen ein aufwendiges Dessert zu machen.
„Wenn es stimmt, was du sagst, Lee, hat Alice dann nicht ein Recht darauf, jetzt glücklich zu sein? So viele schöne Erinnerungen zu sammeln, wie sie kann, ehe alles verschluckt wird?“
„Du hast offenbar kein Wort von dem verstanden, was ich gesagt habe.“
„Natürlich habe ich das. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir in dieser Sache einer Meinung sein müssen.“
„Meine Meinung ist hier das, was zählt.“
Sie bemühte sich, zuvorkommend zu wirken, aber ihre Stimme klang merklich kühler. „Nein. Das, was Alice darüber denkt, zählt.“
„Alice kann die Dinge schon längst nicht mehr realistisch einschätzen, und es ist meine Aufgabe, sie zu beschützen. Und jetzt werde ich da reingehen und ihr sagen, dass sie mit mir nach Hause kommen muss. Ich hoffe, dass du
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