Jeier, Thomas
entsprechend feiern konnten. Die Vereinigung amerikanischer Juden sandte den Indianern Nahrungsmittel und Decken am Hanukkahfest, dem Lichterfest, das alle Juden jährlich zur Erinnerung an den zweiten Makkabäer-Aufstand feiern. Schon immer hatten die Juden eine Nähe zu den Indianern gefühlt, und es war nicht das erste Mal. dass sie mit tatkräftiger Hilfe aufwarteten. Die Boulevardpresse tat ein Übriges, um Mitleid für die Indianer auf Alcatraz zu erwecken, und die Besatzer bekamen eine Flut von Briefen und Sympathiekundgebungen aus aller Welt. Vielleicht auch, weil die Demonstration so friedlich verlief, das bei den Amerikanern verhasste AIM seine Hände nicht im Spiel hatte und auch die Polizei Abstand davon nahm, handfeste Auseinandersetzungen zu provozieren.
Die Regierung sah sich durch diese Welle der Sympathie in die Enge getrieben, und der kalifornische Senator George Murphy traf den Nagel vermutlich auf den Kopf, als er sagte: »Ich hoffe, wir bekommen nicht noch mehr solcher Forderungen, denn wenn man die Sache genau betrachtet, könnte jemand auf die Idee kommen, die ganzen Vereinigten Staaten zu beanspruchen.« Es gingen deshalb laute Seufzer der Erleichterung durch die Reihen der Politiker, als immer mehr Indianer die Zuchthausinsel verließen und nach Hause fuhren. Natürlich hatten die Behörden von San Francisco gehörig nachgeholfen und die Insel tagelang von der Wasser- und der Stromversorgung abgeschnitten. Die täglich patrouillierenden Boote der Küstenwache taten ein Übriges, um die Indianer nervös zu machen. Die letzten Belagerer wurden am 11. Juni 1971 nach 19-monatiger Belagerung von der Polizei vertrieben.
Natürlich hatten auch die Belagerer von Alcatraz keinen bleibenden Erfolg mit ihrer Proklamation. Die Regierung versprach, jeden einzelnen Punkt gründlich zu prüfen, dann verschwand das Papier in irgendeiner Schublade eines Kongressabgeordneten. Aber die Belagerung war dennoch nicht umsonst gewesen. Sie hatte das indianische Bewusstsein und das Gemeinschaftsgefühl aller gestärkt und die Sache der Indianer auf diese Weise erfolgreich in die Öffentlichkeit getragen und damit einen beträchtlichen Schritt vorangebracht.
Fahrt in die Vergangenheit
Im Reservat der Navajos, dem größten Indianergebiet der USA im nordöstlichen Arizona, lebt jeder Zweite der 270 000 Bewohner von Sozialhilfe. Roberta John, eine Angestellte der Stammesregierung, kämpft verzweifelt für die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Eine moderne Amerikanerin, die mit beiden Beinen auf der Erde steht und tief in der Tradition ihres Volkes verwurzelt ist. Sie hetzt von einem Termin zum anderen und ermutigt Stammesmitglieder, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Ihre Regierungsstelle hilft mit Darlehen aus und vermittelt das nötige Fachwissen. Roberta John: »Wir wollen eigene Einkaufszentren, Hotels, Restaurants und Banken. Nur wenn das Geld ins Reservat zurückfließt, können wir in die Zukunft unseres Volkes investieren.«
Sie ist stolz auf ihre Heimat: »Wir haben das größte Reservat der USA, wir sind der 51. Bundesstaat. Wir besitzen eine eigene Regierung, eine eigene Zeitung, eine eigene Rundfunkstation. Berühmte Naturwunder wie das Monument Valley und der Canyon de Chelly liegen in unserem Reservat. Wir müssen den Tourismus fördern, damit mehr Geld in unsere Kassen kommt! Leider wählen die Leute kaum, die meisten wohnen außerhalb des Reservats.« Ein Grund dafür, dass es erst seit 2008 ein Spielkasino in Window Rock gibt. Dabei waren die Navajos immer geschäftstüchtig. Schon im 19. Jahrhundert verkauften sie ihre bunten Teppiche an die Handelsposten. »Die Kluft zwischen Alt und Jung ist zu groß«, erklärt Roberta. »Die Alten lehnen alles Neue ab, und viele Jugendliche wollen nichts mehr mit unserer Tradition zu tun haben. Dabei ist beides wichtig! Die Alten müssen den Tourismus als Einnahmequelle akzeptieren, die jungen müssen unsere Sprache und die alten Lieder lernen. Wer seine Sprache und seine Kultur aufgibt, verliert seine Identität!«
Ich fahre in die Vergangenheit, über eine staubige Straße nach Norden. Dürres Gras bedeckt den rotbraunen Boden. Im Goat Springs Valley halte ich vor einem Hogan, der traditionellen Behausung der Navajos. Lorraine Nelson treibt ihre Schafe in die Koppel, wischt sich die staubigen Hände an der Schürze ab. Die Augen der 60-jährigen Indianerin sind hellwach. Ihr Misstrauen verfliegt, als Roberta mich vorstellt. »Wir haben unsere Kultur
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