Jenseits von Uedem
gemacht, in welcher Situation unsere Gäste hier sind?«
»Es sieht ganz so aus, als ginge es ihnen hier sehr gut.«
»Tja, äußerlich schon. Aber stellen Sie sich mal vor, wie es in jemandem aussieht, der hier ankommt. Der ist aus seinem normalen Leben gerissen worden und zunächst einmal völlig entwurzelt. Ein Altenheim ist die Endstation, da gibt es nichts zu beschönigen.«
Toppe runzelte die Stirn. Die Worte waren ihm ein bißchen zu groß.
Sie lachte leise in sich hinein. »Dr. Billion, eine unserer Gäste, drückt das immer sehr deutlich aus: Ich bin hier in der Warteschleife.«
Susanne Holbe sah Toppe in die Augen. »Viele sind in der ersten Zeit sehr deprimiert. Wir bemühen uns natürlich um eine intensive psychische Betreuung, versuchen zum Beispiel, jedem kleine Aufgaben für die Gemeinschaft zu geben, sein Leben hier sinnvoll zu machen. Aber im Grunde ist das nur Kosmetik. Stellen Sie sich mal vor, Sie haben bisher ein selbstbestimmtes Leben geführt und kommen hier an. Plötzlich gibt es Vorschriften, Sie müssen sich an Regeln halten, Sie müssen sich auf wildfremde Menschen einstellen, die Sie sich nicht aussuchen können, auf alte Menschen, von denen viele gebrechlich und wunderlich sind, Ihnen vielleicht sogar unangenehm. Trotzdem müssen Sie bleiben und sich abfinden.«
Toppe fühlte sich auf einmal unbehaglich; so konkret hatte er sich noch nie Gedanken darüber gemacht. Es hatte immer nur so ein verschwommenes Bild gegeben von ihm und Gabi, wie sie endlich große Reisen machen und das Leben genießen konnten. Was tat ein alter Mann ganz allein?
»In welchem Alter kommen die Leute zu Ihnen?«
»Das ist ganz verschieden. Wenn sie sich nicht mehr allein versorgen können, wenn die Bewältigung des Alltags zu mühsam wird. Oder wenn sie ihren Kindern und Enkel auf die Nerven gehen. Altsein ist den Menschen unangenehm.«
Toppe nickte, sie hatte recht. Lebenserfahrung war nicht mehr gefragt; Leistung zählte, Dynamik, das erfuhr er schließlich selbst an allen Ecken und Enden. Trotzdem war ihm Susanne Holbes Sicht zu bitter.
»Keineswegs«, erklärte sie. »Selbst die nackten Zahlen beweisen das. Die Selbstmordrate steigt bei den über Siebzigjährigen um das Dreifache, die Dunkelziffer nicht mitgerechnet, bei den über Achtzigjährigen ist sie sogar fünfmal so hoch.«
Toppe seufzte. »Und was stellen Sie sich für Ihr eigenes Alter vor?«
Sie lachte milde. »Ich habe vermutlich die gleichen Illusionen wie alle anderen auch. Bis zum Schluß ein interessantes und behagliches Leben führen und geistig und körperlich fit bleiben.«
»Ja«, sagte Toppe, »und dann einfach irgendwann umkippen, und das war's dann.«
»Irgendwer hat mal gesagt: >Wissen Sie, woran ich merke, daß ich alt bin? Niemand gebraucht mehr das Wort Tod in meiner Gegenwart. < In dieser absurden Situation sind wir hier auch. Das stört mich. Ich denke im Augenblick darüber nach, ob wir nicht einen Gesprächskreis zu diesem Thema einrichten sollen.«
Toppe schwieg beklommen.
»Es führt kein Weg dran vorbei«, meinte er schließlich. »Ich muß mit den alten Leuten sprechen. Te Laak ist mit ziemlicher Sicherheit am letzten Samstag hier gewesen, und wir müssen wissen, warum.«
Susanne Holbe räusperte sich und hob bedauernd die Hände.
»Oder können Sie sich vorstellen, daß er ungesehen hier ins Haus gekommen ist?«
»Möglich ist alles.«
»Was könnte er dann hier gesucht haben?«
»Die Akte von Larissa Heidingsfeld?« meinte sie fragend.
»Aber ich schließe mein Büro immer ab, wenn ich nicht da bin. Er hätte also kein Glück gehabt.«
16
Auguste Beykirch beugte sich über ihre dicke Lupe und kniff die Augen zusammen.
»Ja, hier«, sagte sie und tippte auf das Bild. »Das ist die Heidingsfeld.«
Sie war dabei, Fotos der letzten beiden Weihnachtsfeiern und von der Sommerparty in ihr Album zu kleben, und fand es prima, daß Heinrichs ihr dabei Gesellschaft leistete.
»Die da neben dem Tannenbaum.«
Heinrichs betrachtete die Frau auf dem Foto. Sie stand, sehr zerbrechlich in ihrem dunklen Kleid, neben dem Weihnachtsbaum, ein Sektglas in der Hand, und schaute in die Kamera.
»Bedauerlicherweise konnte sie es sich damals am Heiligabend nicht verkneifen zu singen«, erzählte Auguste. »Es mag ja sein, daß sie mal wirklich gut war, aber leider nagt das Alter auch an den Stimmbändern, nicht wahr?« Sie schüttelte sich.
»Können Sie sich das vorstellen? Stille Nacht, und dann auch noch
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