Jesus von Nazaret
auch seine Anhängerschaft alles andere als eine Räuberbande. Es waren irgendwelchesonderbaren Frauen und Männer, die wie Obdachlose friedlich durchs Land zogen. Und die Lehren, die sie verbreiteten, waren offenbar nicht gegen Rom gerichtet. Warum also sollte er sich von den jüdischen Führern zwingen lassen, einen harmlosen Spinner wie diesen Mann aus Galiläa hinzurichten?
Andererseits musste Pilatus auf seinen Ruf in Rom achten. Seitdem der Kaiser Tiberius sich aufs Land zurückgezogen hatte, war der Präfekt der Leibgarde Aelius Seianus der mächtigste Mann des Reiches. Er war es auch gewesen, der Pontius Pilatus nach Judäa geschickt hatte. Seianus hasste alle Juden, und Pilatus konnte mit seinem Beifall rechnen, wenn er keine Gelegenheit auslieÃ, um die Juden zu provozieren und Blutbäder unter ihnen anzurichten. Würde Seianus es verstehen, wenn Pilatus einen Juden ungeschoren davonkommen lieÃ, der von seinen eigenen Leuten beschuldigt wurde, ein Feind Roms zu sein?
In den Schilderungen der Evangelisten Lukas und Johannes versucht Pilatus, sich der Sache irgendwie zu entledigen. Er schickt Jesus zu Herodes Antipas, der sich ebenfalls in Jerusalem aufhält, damit der als Jude den Fall beurteilt. Und als auch dabei nichts herauskommt, macht er sogar den Vorschlag, zum Passahfest einen Gefangenen freizulassen: entweder den Mann aus Nazaret oder den bekannten »StraÃenräuber« (Joh 18, 40) und Mörder Barabbas. Pilatus hat sicher damit gerechnet, dassdie Ankläger nachgeben und sich dafür entscheiden, den harmlosen Jesus die Freiheit zu geben. Er hat wohl nicht bedacht, dass Barabbas kein gewöhnlicher Verbrecher war, sondern ein »Widerstandskämpfer«, der offenbar an einem Aufstand teilgenommen und dabei auch römische Soldaten getötet hat. 98 Er ist also ein politischer Messias nach dem Geschmack des Volkes, wohingegen der seltsame Rabbi aus Galiläa zwar auch Freiheit verspricht, aber sich gegen jeden Kampf entschieden hat. Es ist daher nicht überraschend, dass sich die Ankläger nicht auf den vorgeschlagenen Handel einlassen. Sie verlangen lautstark die Freilassung des Barabbas und den Tod des Nazareners.
Pilatus hat sich durch sein Lavieren in eine heikle Lage gebracht. Er muss nun einen für die Römer gefährlichen Banditen freilassen. Trotzdem will er dem Drängen der Juden nicht nachgeben. Immer wieder lässt er Jesus vorführen, um mit ihm zu sprechen, wohl um einen triftigen Grund zur Verurteilung aus ihm herauszulocken. Doch entweder schweigt Jesus oder er gibt Antworten, die Pilatus nicht versteht. Es ist, als ob beide in verschiedenen Welten leben und nicht anders können, als aneinander vorbeizureden.
Wenn Jesus von seinem »Königtum« spricht, versteht er etwas ganz anderes darunter als Pilatus. Dieser residiert ja im Palast des ehemaligen Königs der Juden, Herodes des GroÃen, und dementsprechend ist auchsein Bild eines Königs. Er herrscht über ein Volk, lebt in unvorstellbarem Luxus, hat Macht und befehligt eine Armee. Dass es einen König geben soll, der sich freiwillig erniedrigt, der auf Macht verzichtet und wie ein Bettler unter den Menschen lebt, das ist für Pilatus schlicht unvorstellbar. Auch als Jesus von der »Wahrheit« spricht, für die er Zeugnis ablegen möchte, kann Pilatus nur mit den Schultern zucken: »Was ist Wahrheit?« (Joh 18, 38)
Für Pilatus ist der oberste MaÃstab der Machterhalt des Römischen Reiches. Was diesem Ziel dient, ist »wahr«, was ihm nicht dient, ist »falsch«. In diesem Sinn kann Wahrheit sehr variabel sein, je nachdem, wie sich die Ziele ändern. So gesehen, ist die Skepsis des Pilatus verständlich. Solche Skepsis ist berechtigt gegenüber Leuten, die behaupten, im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein. Das kann keine Wahrheit sein, die frei macht, im Gegenteil, in ihrem Namen werden fremde Gedanken bekämpft und Andersdenkende zu Feinden erklärt. So etwas passiert immer dann, wenn Wahrheit zu einer Lehre gemacht wird, um Menschen vorzuschreiben, was sie zu denken und wie sie zu handeln haben.
Für Jesus ist Wahrheit keine Lehre, keine Sammlung von Vorschriften. Wahrheit, die Jesus meint, ist nie theoretisch, sie ist immer konkret. Er selbst ist diese Wahrheit, und sie zeigt sich darin, wie er gelebt und gewirkt hat, in tiefer Verbundenheit mit seinem Vater. »Ich bin der Weg und die Wahrheit
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