Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
schlugen um sich, wälzten sich mit zerstörerischer Gewalt durch die Nacht und trieben schließlich zum Himmel empor, um in einer Kaskade aus Funken zu verlöschen. Cassius hatte nicht zu viel versprochen: Ein solches Feuerwerk hatte Jonathan noch niemals gesehen.
Als der Lärm erstarb und die Flammen wieder auf das Maß eines normalen Lagerfeuers zusammengeschrumpft waren, sah er einen Boden aus verbrannter Erde. Überall lagen bewusstlose Männer, die aber, wie er erleichtert feststellte, keine Spuren von Verbrennungen trugen, sondern lediglich durch die Druckwelle der Explosion zu Boden gerissen worden waren. Was auch immer die Substanz in den schwarzen Perlen enthielt, sie veranstaltete mehr Lärm als Schaden. Das bedeutete aber auch, dass ihnen nur wenig Zeit blieb. Eliane lag noch immer im Schnee, Mund und Augen weit aufgerissen.
»Heiliges Kanonenrohr …«, brachte sie hervor.
Jonathan bezwang ein Grinsen. »Das ist mein übliches Silvester-Feuerwerk.«
»Ich nehme alles zurück, was ich über dich gesagt habe, Blitzbirne.«
»Gut! Dann wirst du vielleicht auch endlich mal aufhören, mich so zu nennen.«
Sie zog eine Grimasse und ließ sich von ihm auf die Beine helfen. Um sie herum erwachten die ersten Männer und richteten sich stöhnend auf. Mit wankenden Schritten suchten sie nach Orientierung. Riot war der Erste, der seine sieben Sinne wieder beisammenhatte. Ein Wolf humpelte auf ihn zu, leckte ihm besorgt über das Gesicht. Mit einer zornigen Bewegung verscheuchte er ihn.
»Kannst du rennen?«, flüsterte Jonathan.
»Wie der Wind«, gab Eliane entschlossen zurück.
»Dann los!«
Gemeinsam stoben sie hinter der Kiste hervor, geradewegs auf den Waldrand zu. Hakenschlagend liefen sie zwischen den Männern hindurch, sprangen über die benommenen Wölfe hinweg und hielten auf den Pfad zu, der direkt in den Wald führte. Jeden Augenblick konnten Riots Schergen zu neuen Kräften kommen und die Verfolgung aufnehmen.
Sie rannten, bis ihre Beine schmerzten, die Kälte in ihren Lungen stach und das Blut in den Ohren rauschte. Eliane stolperte über einen Stein und fiel in den Schnee. Jonathan half ihr auf. An ihrem leisen Stöhnen konnte er hören, dass sie Schmerzen hatte, doch als er ihr einen fragenden Blick zuwarf, schüttelte sie den Kopf.
Immer weiter rannten sie, qualvoll, Minute um Minute, bis ihre Beine schließlich unter ihnen nachgaben. Am Ende ihrer Kräfte fielen sie in den Schnee. Mühsam gelang es Jonathan, den Kopf zu heben. Er sah keine Spur von Riot, seinen Wölfen, seinen Männern oder Aurora. Sie hatten Bärenfels verlassen. Hier endete Riots Macht. Der Sommer eroberte sein Terrain zurück, wies Schnee und Eis in die Schranken. Schon sah er Inseln aus Moos, die sich trotzig aus der dünn gewordenen, weißen Decke erhoben.
Minutenlang lagen sie einfach nur da und rangen nach Atem. Mit schmerzverzerrtem Blick kämpfte sich Eliane schließlich auf die Füße. Sie ging voraus, um dem Lauf des Baches zu folgen, hin zu seinem Ursprung. Jonathan folgte ihr.
Mit jedem Schritt ließen sie ein Stückchen des Albtraums weiter hinter sich und gingen der Wärme einer sternenklaren Augustnacht entgegen. Das Rauschen eines Wasserfalls in der Ferne verriet ihnen, dass sie ihrem Ziel sehr nahe waren.
Neunzehntes Kapitel
Das vergessene Volk
Sie traten auf die Lichtung, die Cassius ihm beschrieben hatte. Sanft wie ein Flüstern strich der Wind über das hohe Gras und wies Jonathan und Eliane den Weg. Bald fanden sie sich vor einem See wieder, der von Wald umschlossen war. Trotz der warmen Böe blieb er glatt wie ein Spiegel und zeigte das sternenverhangene Firmament so klar, dass man fast meinen konnte, Himmel und Erde berührten einander. Nach Süden hin erhoben sich zerklüftete Felsen aus dem Wald. Hier, zwischen knorrigen Bäumen und moosüberwuchertem Basaltgestein, lag die Quelle des Rauschens: ein Wasserfall, der dem Berg entsprang, in zahllosen, kleinen Seitenarmen zu einem Strom zusammenfand und sich schließlich brausend in den See ergoss. Am Ufer standen einige Bänke, die vor langer Zeit einmal Wanderern und Ausflüglern zur Rast gedient hatten. Inzwischen war die Gegend von der Welt vergessen worden.
Schweigend gingen Jonathan und Eliane am Ufer entlang. Das Donnern des Wasserfalls war allgegenwärtig. Jonathan musste an seinen Vater denken, der schon als Kind hier gestanden und sprachlos diese seltsame Schönheit bewundert hatte. Nach einer Weile besann er sich auf seine Aufgabe,
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