Judith
Unwillkürlich drehte er den Kopf.
Der Zug war nun schon recht nah. Gavin erkannte das Mädchen auf dem weißen Pferd. Er sah das glänzende Haar und fragte sich, wer das sein könnte, bis er begriff, daß das die Braut war.
Sie sah aus wie eine zum Leben erwachte Göttin. Sein Mund öffnete sich vor Staunen. Dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Raine hatte ihn belogen!
Gavin war so erleichtert und glücklich, daß er nicht merkte, wie er sich in Bewegung setzte. Nach alter Tradition mußte den Bräutigam am Kirchenportal warten, bis der Brautvater die Braut aus dem Sattel hob, die Stufen heraufführte und ihrem künftigen Gemahl übergab.
Doch Gavin wollte dieses Mädchen aus der Nähe sehen. Er hörte die Hochrufe und Begeisterungsschreie der Menge nicht, « als er seinen Schwiegervater zur Seite schob und dann die Arme ausstreckte, die Hände um Judiths Taille legte und sie herunterhob.
Aus der Nähe war sie noch hinreißender. Gavin sah einen rosigen Mund, eine Haut wie Milch und Blut, weich wie Seidel Und er konnte mit Mühe einen Ausruf unterdrücken, als er in ihre Augen blickte.
Glücklich lächelte er sie an, und sie erwiderte dieses Lächeln.
Zwischen ihren Lippen schimmerten ihre weißen Zähne wie edle Perlen.
Das Jubeln der Leute brachte Gavin in die Wirklichkeit zurück. Er stellte Judith auf die Füße und reichte ihr seinen Arm. Seine Finger schlossen sich um ihre schmale Hand, als wollte er verhindern, daß sie vor ihm flüchten konnte.
Den Zuschauern gefiel sein Verhalten, und sie bezeugten ihre Freude durch laute Zurufe. Robert Revedoune, der zuerst wütend war, weil Gavin ihn fortgeschoben hatte, rang sich auch ein Lächeln ab.
Die Trauungszeremonie wurde außerhalb der Kirche abgehalten, damit auch alle sehen konnten, was geschah. Der Priester fragte Gavin, ob er Judith Revedoune zur Frau nehmen wolle.
Einen Moment sah Gavin das Mädchen neben sich an, das glänzende, in weichen Wellen bis zur Taille fallende Haar. »Ja, das will ich«, antwortete er.
Dann fragte der Priester Judith, die Gavins Blick ruhig standgehalten hatte. Ihre Mägde hatten ihr berichtet, daß der Bräutigam sehr gut aussah. Sie hatte einen netten Jüngling erwartet. Nun stand ein Mann neben ihr, groß und stark wie ein Held, mit dunklem Haar, breiten Schultern, ganz in grauen Stoff gekleidet, und mit einem Schwert um die Hüften, dessen Knauf im Sonnenlicht blitzte.
Bei dem Blick aus Gavins Augen rann ihr ein Schauer über den Rücken. Judith war so in ihrer Betrachtung versunken, daß der Priester seine Frage wiederholen mußte.
Mit glühenden Wangen flüsterte sie ihr Ja. Sie wollte diesen Gavin Montgomery zum Mann.
Die Ringe wurden getauscht, und sie schworen sich gegenseitig, sich zu lieben, zu ehren und einander treu zu sein.
Alles zog wie ein Wirbel an Judith vorbei. Sie war vor Glück wie benommen.
Körbe mit Silbermünzen wurden ihnen in die Hände gedrückt, und das junge Paar warf die Münzen den Leuten am Fuße der Treppe zu. Dann folgte es dem Priester in die dämmerige Kirche.
Dort nahmen Gavin und Judith die Ehrenplätze ein. Während der feierlichen Messe, die dann folgte, warfen sie sich immer wieder verstohlene Blicke zu.
Die Gäste beobachteten das Paar, und alle waren sicher, daß hier ein Glück begann, wie man es nur aus dem Märchen kannte.
Nur eine Person freute sich nicht mit den beiden. Lilian Valence saß neben ihrem zukünftigen Mann und starrte haßerfüllt auf Judith. Edmund Chatworth war ein fetter, träger Mensch. Das völlige Gegenteil zu dem stattlichen Gavin. So stellte sich keine Frau einen Liebhaber vor.
Ich werde nicht zulassen, daß Gavin mich vergißt, nahm Lilian sich vor. Diese kleine Hexe mit ihren roten Haaren wird ihn mir nicht nehmen.
Als sie beobachtete, wie Gavin die Hand seiner Braut nahm und küßte, ballte sie in ohnmächtiger Wut die Fäuste. Dieses Mädchen errötete nicht einmal!
Lilian wurde nicht bewußt, daß jemand ihre Wut sehen konnte. Doch Raine bemerkte es, ehe sie sich wieder in der Gewalt hatte.
Raine wußte, welche Macht Lilian über Gavin hatte. Im Moment war er zwar von Judith fasziniert. Aber wie lange mochte das anhalten?
Raines Blick ging zwischen Judith und Lilian hin und her. Lilian kann man bewundern, dachte er. Aber Judith muß man lieben.
5. Kapitel
Am Ende der langen Hochzeitsmesse faßte Gavin nach Judiths Hand und führte sie die Stufen zum Altar hinauf. Dort kniete sie nieder, um den Segen zu empfangen.
Und dann
Weitere Kostenlose Bücher