JULIA COLLECTION Band 16
Sally entspannte sich und lächelte sogar. Sie genoss die kühlende Luft, das Freiheitsgefühl und das aufregende Kribbeln möglicher Gefahr.
Es war schon sehr lange her, dass sie so empfunden hatte. Das war, bevor ihr Leben eine einzige Folge von Wohltätigkeitsveranstaltungen geworden war. Damals suchte sie geradezu gefährliche Herausforderungen – Motorräder, Paragliding, Tiefseetauchen, Felsenklettern. Das war, als ihre Welt zusammengebrochen und ihr alles egal geworden war. Sally hatte sich für nichts mehr interessiert, außer, jeden einzelnen Moment ihres Lebens nahezu exzessiv zu erleben. Sie hatte die aufregendsten, haarsträubendsten, riskantesten Aktivitäten ausgesucht, die sie nur finden konnte, um ihren Schmerz im Adrenalinrausch zu betäuben.
Bis vor fünf Jahren, als sie eines Morgens aufgewacht war und sich mit einem gebrochenen Arm und einem gebrochenen Bein im Krankenhaus wiedergefunden hatte. Ihr war plötzlich klar geworden, dass man nicht intensiver lebt, wenn man den Tod jagt, und dass ihr Schmerz nicht dadurch verschwand, indem sie ihn leugnete. Sie hatte erkannt, dass es nur einen Weg gab, mit ihrem Schmerz zu leben. Sie wollte von diesem Tag an den Menschen helfen, wo immer sie konnte.
Seit jenem Morgen war sie eine glühende Verfechterin für das Wohl karitativer Einrichtungen geworden. Sally Evans wurde die Frau, an die sich jede Wohltätigkeitsorganisation in Manhattan und Umgebung wandte, wenn sie etwas erreichen wollte. Sally organisierte außergewöhnliche Wohltätigkeitsbälle, hatte schon so manchen Milliardär so sehr eingeschüchtert, dass er eine Spende für Dinge leistete, die ihm nicht einmal im Traum eingefallen wären, und sie konnte eine Prominenten-Auktion in das Ereignis des Jahres verwandeln. Und all das tat sie mit dem ruhigen, gelassenen Lächeln, hinter dem sich die wahre Sally vor jedem verbarg.
Sie hatte unzählige Bekannte, aber nur sehr wenige Freunde, und diese Freunde waren eher eine Familie für sie als ihre wirklichen Blutsverwandten. Deswegen war sie auch in Baywater gelandet, ausgerechnet in diesem kleinen Städtchen in South Carolina, und saß hinter einem umwerfenden Mann in Jeans und fuhr im Regen auf einem Motorrad. Wegen Donna.
Seit jenem fürchterlichen Moment vor zwölf Jahren, als Sally den Boden unter den Füßen verloren hatte, war Donna immer für sie da gewesen. Sie hatte mit ihr geweint, sie an sich gedrückt und unterstützt, als Sally sich gegen ihre Familie durchgesetzt hatte. Donna Fletcher war die einzige Verbindung zu ihrer Vergangenheit, die Sally noch lieb war.
„Wie geht’s da hinten?“
Aidans Stimme drang langsam zu ihr durch und riss sie aus ihren Gedanken. Sally atmete scharf ein und erinnerte sich streng daran, dass die Vergangenheit hinter ihr lag. „Alles in Ordnung“, schrie sie, um über dem Lärm des Motors gehört zu werden.
Der Regen klatschte auf sie herab, als könnte sich das Gewitter nicht dazu entschließen, richtig Ernst zu machen. Während sie so weiterfuhren, gingen allmählich immer mehr Straßenlampen an, und die Regentropfen schimmerten im sanften Licht.
Ein Wagen sauste an ihnen vorbei. Das Radio lief auf Hochtouren, und das Wasser spritzte hoch auf. Sally versuchte, sich hinter Aidan in Sicherheit zu bringen. Sie presste sich an ihn und drückte ihre Wange an seine Schulter. Nun sah sie nicht mehr nach vorne, sondern beobachtete, wie in Windeseile erst die Schaufenster der Geschäfte und dann die Wohnhäuser an ihr vorbeiflogen. Schließlich war auch keine Bebauung mehr zu sehen, es gab nur noch die Bäume, die die Küstenstraße säumten.
Das Pulsieren der Maschine unter ihr, der angenehm kühle Wind in ihrem Haar, ihre Arme um Aidans festen Bauch und das Gefühl des Regens auf ihrer Haut wirkten wie ein Zauber auf Sally. Deswegen dauerte es auch ganze zwei Minuten, bevor ihr etwas auffiel.
„He!“, schrie sie und hob den Kopf von Aidans Schulter. „Sie sind nicht in Donnas Straße eingebogen.“
„Stimmt.“
„Sie sind daran vorbeigefahren.“
„Das stimmt auch, ich habe es absichtlich getan.“
Sie drückte ihn unwillkürlich fester an sich, und er stieß ein leises Stöhnen aus, das Sally nicht hörte. „Was haben Sie vor?“
„Können Sie nicht einfach die Fahrt genießen?“, fragte er.
„Erst wenn Sie mir erklären, was das soll.“ Sie war unvorsichtig geworden. Sally machte sich Vorwürfe. Sie hätte dieser Fahrt niemals zustimmen dürfen, sie hatte schon gewusst, dass es
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