JULIA COLLECTION Band 16
wollte.“
„Sie muss eine sehr starke Frau sein.“
„Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr.“ Er lachte bei dem Gedanken an seine energische Mutter und die leichte Art, mit der sie immer ihre vier lebhaften Söhne fest im Griff gehabt hatte. „Dad machte noch ein, zwei Jahre weiter, verschaffte sich dann aber einen festen Job hier, und bald darauf zog er sich aus dem Beruf zurück.“
„Vor kurzem?“
„Er starb vor ein paar Jahren.“
„Oh, das tut mir leid.“
Er nickte. „Danke. Mom lebt immer noch in ihrem Haus hier in Baywater und genießt es, alle drei Söhne in derselben Basis und in ihrer Nähe zu haben, sodass sie sie immer ärgern kann, wenn ihr danach ist.“
„Und Sie sind alle verrückt nach ihr.“
Er zuckte die Achseln. „Wie könnten wir anders?“
„Und Ihr anderer Bruder?“
„Ah, Liam. Pfarrer Liam.“ Aidan strich ihr eine blonde Strähne hinter das Ohr. „Es ist der Wunsch jeder Irin, einmal sagen zu können: ‚Mein Sohn, der Pfarrer.‘ Liams Kirche St. Sebastian ist ebenfalls hier in Baywater, also hat Mom wirklich großes Glück gehabt. Zumindest bis einer von uns an eine andere Basis geschickt wird.“
„Aber selbst wenn Sie getrennt sind, werden Sie immer füreinander da sein.“
Er musterte sie nachdenklich und bemerkte wieder die tiefe Trauer in ihrem Blick. Sein erster Impuls war, sie zu trösten, die Traurigkeit aus ihren Augen zu vertreiben und sie zum Lächeln zu bringen.
Und genau das jagte ihm eine Heidenangst ein.
4. KAPITEL
Am späten Nachmittag nahm der Wind zu, der Himmel war bewölkt, und Sally versuchte immer noch, sich einzureden, dass Aidan nicht den geringsten Eindruck auf sie machte. Aber insgeheim wusste sie, dass sie sich etwas vormachte.
Sie schloss den Buchladen ab und trat auf die Straße hinaus. Ein Blick zum Himmel zeigte ihr schiefergraue Wolken, die sich gegenseitig fortzuschieben schienen.
„Ein Gewitter zieht auf.“ Eine leise, freundliche Frauen-stimme erklang neben ihr.
Sally drehte sich lächelnd zu Selma Wyatt um. Selma musste mindestens siebzig sein, aber ihre blauen Augen strahlten so lebendig und voller Energie, dass Sally sie ein wenig beneidete. Das lange silberfarbene Haar hing ihr in einem dicken Zopf über den Rücken ihres dünnen, romantischen blassgelben Kleids, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Nur ihre tiefroten Turnschuhe lugten unter dem Saum hervor.
„Ja“, antwortete Sally nach einem zweiten Blick himmelwärts. „Sieht ganz danach aus.“
Selma schüttelte den Kopf, sodass ihr Zopf wie ein Pendel hin und her schwang. „Die Art Gewitter meinte ich gar nicht, Liebes.“
„Oh.“ Sally nickte verständnisvoll und gab sich keine Mühe, ihr Lächeln zu verstecken. „Hast du etwas Interessantes in deinen Karten gesehen?“
Die alte Dame besaß neben Donnas Geschäft einen esoterisch angehauchten Laden, in dem sie den Menschen aus der Hand las. Und obwohl Sally nie etwas für das Esoterische übrig gehabt hatte, musste Selma wohl sehr gut darin sein, weil die Kunden sich den ganzen Tag lang sozusagen die Klinke in die Hand gaben.
Seit Sally in der Stadt war, und das waren ja erst wenige Tage, hatte Selma sie unaufgefordert unter ihre Fittiche genommen. Sie war mit ihr essen gegangen, hatte sie den Stammgästen im „ Delilah’s“ vorgestellt und sich im Grunde selbst zu ihrer Freundin und Aufpasserin ernannt. Sie hatte Sally sogar angeboten, ihr kostenlos aus der Hand zu lesen, was Sally allerdings dankend abgelehnt hatte. Wenn ihre Zukunft aussehen sollte wie ihre Vergangenheit, dann wollte sie es lieber nicht wissen.
„Ach was, Süße. Dafür brauchte ich doch nicht meine Karten. Es liegt in der Luft. Spürst du es denn nicht?“
Ein Schauder lief Sally über den Rücken, bevor sie sich mit dem Gedanken beruhigte, dass Selma wohl ein wenig zu lange in ihre Kristallkugel gesehen hatte. „Das einzige Gewitter, das ich spüre, kommt vom Meer auf uns zu, Selma.“
Selma lächelte nachsichtig, wie ein Erwachsener über eine Zweijährige, die darauf besteht, sich selbst die Schuhe zuzubinden, obwohl ihre kleinen Finger es noch nicht ganz schaffen. „Aber natürlich, meine Liebe. Hör nicht auf mich.“ Dann hielt sie inne, legte den Kopf schief und sagte: „Oh. Da ist es. Warte.“
Sally wurde allmählich ungeduldig und fühlte sich, zugegeben, ein wenig unbehaglich. „Worauf soll ich warten?“
Dann hörte sie es. Ein leises Grollen, das wie weit entfernter Donner klang und immer
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