Kälteeinbruch (German Edition)
juristischen Fakultät.
«Sie können es ja mal in der rechtswissenschaftlichen Bibliothek versuchen. Nach der Vorlesung sitzen die Studenten häufig dort.»
«Ich erwarte wohl zu viel, wenn ich frage, ob Sie von Ihren Studenten eine Fotografie besitzen?» Er lächelte verhalten. «Ich bin ihr leider noch nie begegnet.»
Ihre runzlige Stirn wurde noch faltiger. Sie neigte den Kopf zur Seite. Beäugte ihn misstrauisch.
Er beugte sich vor. Streckte den Kopf ganz durch die Luke und flüsterte: «Ihr Bruder war für die Regierung tätig.» Er nickte dezent nach links. Der Präsidentenpalast lag auf der gegenüberliegenden Straßenseite. «Jetzt ist er tot. Diese Information muss unter uns bleiben, andernfalls müssen Sie mit einer strafrechtlichen Verfolgung rechnen.»
Ihr Mund stand halb offen. «War er ein Agent?»
Ivan nickte. Legte den Zeigefinger auf die Lippen. «Pssst.»
Sie drehte ihm den Bildschirm zu.
Viktorija Mielkos
prangte in großen Buchstaben auf der Seite. Matrikelnummer, E-Mail und Telefonnummer. Rechts auf dem Bildschirm war ein Porträt. Viktorijas Gesicht war herzförmig. Die Haare schwarz. Die Haut schneeweiß. Fast so wie die Frau, die er vor der Konditorei gesehen hatte. Nur noch unschuldiger. Und hübscher.
Ivan bedankte sich. Streifte die Handschuhe über und ging wieder hinaus auf den Campus. Folgte der Beschreibung der alten Schachtel vom Informationsschalter. Durchschritt die Fakultäten für Geschichte und Philosophie, überquerte einen weiteren Campus und steuerte auf den Eingang zur juristischen Fakultät zu. Die Tür knarrte, als er sie öffnete. Offensichtlich gab sich der Hausmeister bei Gebäuden, die weit weg von der Verwaltung lagen, nicht so große Mühe.
Er folgte dem schmalen Korridor, bis dieser sich verzweigte. Bog nach links. Außer dem Widerhall seiner harten Schuhe auf dem jahrhundertealten Parkett war nichts zu hören. Ivan ging an zwei leeren Vorlesungssälen vorbei. Die Tür zu einem Raum stand offen. Von dort hörte er gedämpfte Stimmen. Er blieb vor der Tür stehen. Fleißige Studenten tauschten sich über Paragraphen und ihre Pläne fürs Wochenende aus. Eine Studentin beklagte sich, dass sie am Wochenende arbeiten müsse. Ivan trat in die Tür. Vier Köpfe wandten sich ihm zu.
«Die Bibliothek?», fragte er.
Eins der Mädchen streckte den Arm aus. «Gehen Sie einfach durch die nächste Tür und den Korridor hinunter, dann sehen Sie sie schon.»
Mit großen Schritten ging er weiter. Zog die Handschuhe aus und steckte sie in die linke Tasche. In der rechten lag ein Springmesser, mit dem er schon Fruchtfleisch wie auch Menschenfleisch durchschnitten hatte.
An der Wand vor der Bibliothek hingen Schwarz-Weiß-Fotografien von Männern, die hier studiert und sich in ihrem späteren Leben hervorgetan haben mussten. Die Worte
Garb
ė
s siena
– Ehrenwand – waren darüber in die Wand gemeißelt.
Die Bibliothek sah genau so aus, wie er sie sich vorgestellt hatte. Dunkle, schwere Möbel. Bücherregale, die sich vom Boden bis zur Decke an den Wänden entlang und in den Raum erstreckten. Zwischen den Regalen befanden sich lange Tischreihen mit Sitzplätzen zu beiden Seiten. Überall brannten weiße Leselampen, unter fast jeder saß ein Student in der Hoffnung, eines Tages die Wand vor der Bibliothek zieren zu dürfen. Ein Handy piepte leise. An einem Tisch mitten im Raum konnte Ivan einen Mann erahnen, der zu seinem Rucksack am Boden abtauchte. Das Handy ließ sein Gesicht aufleuchten. Er drückte auf eine Taste und legte es beiseite. Jemand hustete. Das Geräusch von Seiten, die umgeblättert wurden, war allgegenwärtig.
Ivan ging langsam zwischen den Tischen hindurch. Warf scheinbar zufällige Blicke auf die über die Bücher gebeugten Gesichter. Eine Studentin sah auf. Sie lächelte zaghaft, bevor sich ihr Blick wieder dem Text in dem Buch vor ihr zuwandte.
Das Lächeln hatte er wohl der schlechten Beleuchtung zu verdanken. Immerhin. Er ging an den vorderen Tischen vorbei. Hatte sie noch nicht entdeckt. Blieb an einem Regal stehen und nahm ein beliebiges Buch heraus. Schlug es mittendrin auf und senkte den Kopf, während er mit den Augen den Raum scannte. Langsam bewegte er sich an den Regalen entlang und nahm die Tische, an denen er vorbeikam, in Augenschein. Er blieb wieder stehen. Blätterte in regelmäßigen Abständen in dem Buch, ohne jedoch auf die Seiten zu schauen.
Sie saß ganz vorne, an dem Tisch neben der Tür. Er war an ihr vorbeigegangen, als er
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