Kasey Michaels
erzählen, was geschehen war, seit sie
den Brief abgebrochen hatte, würde ein ganzes Buch ergeben.
Seufzend –
und mit der jähen Erkenntnis, dass sie eigentlich nie seufzte – tauchte sie die
Feder in das Tintenfass und beschloss, ziemlich vage zu bleiben.
Leider
wird der Brief wohl für die Morgenpost nicht mehr fertig werden, was ein Jammer
ist, da ich nur noch wenig zu erzählen habe, seit ich gestern die Feder
niederlegte. Tanners Cousine (entfernte Cousine!) ist entzückend und
erstaunlich hübsch, aber was der liebe Gott ihr an Schönheit verlieh, hat er
auf anderen Gebieten gespart, und so ist sie ziemlich seicht und töricht.
Trotzdem, ich glaube, ich mag sie.
Lydia legte die Feder fort und
betrachtete die letzten Worte. Aber warum eigentlich mochte sie Jasmine
Harburton? Etwa weil sie ein bisschen töricht, ein bisschen zu bedauern war?
Oder weil sie Tanner nicht heiraten wollte?
Nein,
darüber wollte sie nicht nachdenken.
Was sonst
konnte sie Nicole über den gestrigen Abend erzählen?
„Nichts!
“, sagte Lydia laut zu ihrem eigenen Erstaunen.
Ihre
Schwester, ihre beste Freundin, ihr Zwilling. Nach all den Jahren, nach all den
geflüsterten Mädchengeheimnissen und Geständnissen war nun das Geschehen des
vergangenen Abends wirklich das Letzte, was sie mit ihr – oder überhaupt
jemandem – zu teilen bereit war.
Sehr
merkwürdig!
Erneut
tauchte sie die Feder ein. Sie wusste, sie würde ihre Schwester belügen, und
sei es nur durch Verschweigen.
Der
Ball, wie die meisten solcher Anlässe, war nicht sonderlich ereignisreich. Ich
habe oft getanzt, also magst du deine Furcht ablegen, dass ich mich den ganzen
Abend hinter einer Topfpflanze verborgen haben könnte, weil du dich an den
Dekolletés aller meiner Abendkleider vergriffen hattest.
So, lass sie in dem Glauben, ihr kleiner
Streich sei der Grund für den gesellschaftlichen Erfolg ihrer Schwester. Nicole
genoss es, recht zu behalten.
Wieder
tauchte Lydia die Feder ein und schrieb.
All die
Eissorten von Gunther waren natürlich überaus köstlich.
Lächelnd erinnerte sie sich, wie sie nach
dem Zwischenfall im Garten, als sie ihre Begleiterinnen hinaus zu Tanner und
der Kutsche zu schaffen bemüht war, die arme Mrs.Shandy im wahrsten Sinn des
Wortes von dem Eisbuffet fortzerren musste.
Ein
merkwürdiger Abend! Und doch, wären da nicht diese betrunkenen Tölpel und
Tanners Verletzung gewesen, müsste sie zugeben, dass sie den Ball genossen
hatte, mehr als sämtliche sonstigen Unterhaltungen seit ihre Ankunft in London.
Sie hatte einen neuen Freund gefunden, hatte häufig getanzt und war von dem
Baron geradezu lachhaft umschmeichelt worden.
Und Tanner
hatte sie geküsst. Auf die Wange.
Aber da lag der Haken. Was hatte der Kuss bedeutet?
Fest stand,
sie hatte nicht erwartet, dass er sie küssen würde. Wieder fragte sie sich, was
geschehen wäre, wenn sie in diesem Augenblick den Kopf gewendet und er ihren
Mund getroffen hätte. Hätte er um Verzeihung gebeten? Oder hätte er die Gelegenheit
wahrgenommen?
Für sie
beide hätte es peinlich werden können, von daher war es ein Glück, dass es bei
dem Kuss auf die Wange geblieben war. Ein netter Kuss. Ein entschuldigender
Kuss? Ein impulsiver Kuss?
„Hör auf
damit“, tadelte sie sich, denn sie merkte, dass sie sich aus Unsicherheit
ihre Freude über den Kuss verdarb. Wieder tauchte sie die Feder ein und
schloss mit dem Wunsch, dass Nicole ihr bald antworten möge, ehe sie den Brief
schwungvoll unterschrieb. Sie hatte eben die Tinte mit Sand gelöscht und war
dabei, die Blätter zu falten, als Charlotte klopfte und, ohne abzuwarten,
eintrat.
„Gut, du
bist wach, sogar schon angezogen, und gefrühstückt hast du auch“, stellte
ihre
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