Kein Entkommen
einzustellen, hielt sie ihr Gesicht in den Strahl, um das Shampoo aus ihren tränenden Augen zu waschen.
Tränen, ja. Es waren nicht die ersten, die ihr in die Augen traten.
Sie konnte es immer noch nicht fassen. Mitten in der Nacht war sie aufgewacht und hatte plötzlich weinen müssen. Gott sei Dank schnarchte Dwayne wie eine Bandsäge; er hatte nichts von alldem mitbekommen.
Nicht dass sie unkontrolliert vor sich hin geschluchzt hätte. Nein, sie hatte sich nicht die Augen aus dem Kopf geheult. Vielmehr hatten sie ihre Gefühle überwältigt .
Verdammt. Das passte doch überhaupt nicht zu ihr.
Doch in jenem Moment hatte sie sich vorgestellt, wie sie über Ethans Kopf strich, sein feines Haar an ihren Fingern spürte. Plötzlich hatte sie den süßen Geruch in der Nase, der von seinem kleinen Körper ausging. Sie hörte seine kleinen Füße über den Boden tappen, wenn er morgens ins Schlafzimmer kam, um sie zu wecken. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie er seine Cheerios aß und wie er im Schneidersitz vor dem Fernseher saß, wenn Thomas, die kleine Lokomotive lief.
Sie spürte, wie es sich anfühlte, wenn er zu ihr ins Bett kroch. Wie warm er war.
Denk an das Geld.
Sie versuchte, die Gedanken an ihn zu verscheuchen und wieder in den Schlaf zu finden, indem sie sich die Diamanten vorstellte, die sie reich machen würden.
Doch immer wieder drängte sich Ethans Gesicht in den Vordergrund.
Stets hatte sie sich während ihrer Beziehung zu David daran erinnert, dass es ihr ausschließlich um das Geld ging. Die bürgerliche Fassade, ihre Ehe, ihr Dasein als Mutter – all das war nichts weiter als Teil des Jobs. Anschließend wartete ein Vermögen auf sie. Es ging lediglich darum, die Zeit irgendwie zu überstehen. Sobald Dwayne wieder aus dem Knast kam, war die Sache gelaufen. Es würde sie nicht mal ein Schulterzucken kosten. Und wenn sie die Diamanten endlich zu Bargeld gemacht hatten, wäre auch Dwayne bald Geschichte
Ein letzter Kostümwechsel, und sie war endgültig frei.
Und was Promise Falls anging, hatte sie ganze Arbeit geleistet. Mit ein bisschen Glück würde niemand nach ihr suchen. Höchstens nach ihrer Leiche, und am Ende würden die Bullen davon ausgehen, dass David sie in Säure aufgelöst hatte, oder was auch immer. Klar, er würde schwören, dass er unschuldig war, aber taten das nicht alle Mörder?
Vielleicht würde ihm irgendwann sogar aufgehen, was wirklich geschehen war. Na und? Was wollte er vom Zuchthaus aus groß ausrichten? Und bis dahin hatte er sein letztes Geld für Anwälte und Wiederaufnahmeverfahren ausgegeben und garantiert nichts mehr, um einen Privatdetektiv auf ihre Fährte zu setzen.
Wenigstens musste sie sich keine Sorgen um Ethan machen. Seine Großeltern würden sich um ihn kümmern. Don war ein bisschen altersweich in der Birne, hatte aber das Herz am rechten Fleck. Und auch wenn sie mit Arlene nie richtig warm geworden war – tausend Mal hatte die alte Frau sie angesehen, als würde sie genau spüren, dass etwas mit ihr nicht stimmte –, bestand kein Zweifel, dass sie den Jungen großziehen würde. Sie hatte noch viele Jahre vor sich, und sie liebte Ethan über alles.
Und das war ein tröstlicher Gedanke. Sie musste es sich nur lange genug einreden.
Wenn sie erst ein neues Leben begonnen hatte – ein Leben ohne Sorgen, ein Leben, in dem sie tun und lassen konnte, was immer sie wollte –, würde es ihr ja vielleicht gelingen, die Vergangenheit endgültig zu vergessen. Und mit ihr sogar das kleine Bündel Mensch, das sie selbst in die Welt gesetzt hatte.
Ja. Es zählte nur eins. Das Geld.
Geld heilte alle Wunden. Es half einem, nach vorn zu sehen, alles andere zu vergessen. Daran hatte sie ihr ganzes Leben geglaubt.
***
Dwayne hielt auf der Beacon Street und grinste breit.
»Da wären wir«, sagte er.
Jan sah nach rechts. Sie standen vor einer Filiale der MassTrust-Bank, die sich zwischen einem Starbucks und einem schicken Schuhladen befand.
»Das ist sie?«, fragte Jan.
»Aber hallo. Da drin kannst du endlich deinen Schlüssel benutzen.«
So waren sie vorgegangen: Jeder hatte ein eigenes Schließfach für seine Hälfte der Diamanten gemietet, ohne dem anderen zu sagen, wo es war. Anschließend hatten sie die Schlüssel getauscht. Damit waren sie aufeinander angewiesen, wenn sie das Diebesgut zu Geld machen wollten.
»Na, dann los«, sagte sie.
Sie stiegen aus dem Pick-up, betraten die Bank und marschierten zum Kundenschalter.
»Wir würden
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