Kein Erbarmen
folgt mir. Sie schiebt mir einen zweiten Brief unter der Tür durch und hofft auf irgendeine Reaktion. Die aber nicht kommt! Wir wissen, aus welchen Gründen, aber sie nicht. Und als sie nichts hört, bringt sie sich um.«
»Es sind zu viele offene Fragen«, meinte Lisa. »Warum sollte sie dir ein zweites Mal einen anonymen Brief schreiben, statt dich einfach anzusprechen? Wenn sie es überhaupt war, deine Unbekannte mit der Sonnenbrille.«
»Sie war es.«
»Und warum reist sie dann ab? Genau in dem Moment, in dem …«
»Vielleicht hatte sie Angst. Vielleicht wollte sie nicht, dass ich weiß, wer sie ist. Wenn sie wirklich davon ausgegangen ist, dass ich noch im Dienst bin, dann wollte sie vielleicht nur … ich weiß es nicht, Lisa! Dass ich irgendwas unternehme vielleicht, dass ich mich um die Sache kümmere.«
»Ein bisschen dünn, finde ich.«
»Aber jetzt ist sie tot. Hat als letzten Ausweg nur noch die hirnrissige Idee gehabt, sich vor einen Zug zu werfen.Wobei auch das noch nicht mal sicher ist. Lepcke glaubt nicht wirklich an einen Selbstmord, das war deutlich zu spüren, ich habe es dir ja erzählt, und wenn er recht haben sollte …«
»Dann bleibt die Frage, wer sie vor den Zug gestoßen hat.« Lisa schob sich ein Fisherman’s Friend in den Mund, bevor sie weitersprach. »Immerhin gibt es einen zweiten Toten. Einen Hundeausbilder, der gefoltert worden ist. Und ganz sicher ist er nicht zufällig genau der Ausbilder, der zuvor beschuldigt worden ist, Anwärterinnen zu quälen, zu nötigen, zu missbrauchen.«
»Rache als Motiv«, sagte Tabori eher zu sich selbst. »Aber wer ist der Rächer? Die Anwärterin kann es nicht sein, das wäre wahrscheinlich auch zu einfach gewesen. Aber sie war schon tot, als … ich kann mir den Namen nicht merken, du weißt schon, Respekt, als der gefoltert wurde, war sie bereits in der Pathologie. – Drei Anwärterinnen waren für eine Stellungnahme nicht erreichbar, stand in deinem Artikel, die eine wird unser Opfer gewesen sein, bleiben die beiden anderen. Ich schätze, ich würde gerne mal mit ihnen reden.«
»Soweit ich mich erinnere, wohnen die meisten Anwärter auch gleich auf dem Gelände. Vielleicht hast du Glück.«
Sie waren jetzt auf der sich scheinbar endlos hinziehenden Hauptstraße von Isernhagen. Ein typisch niedersächsisches Straßendorf, in der ersten Reihe teilweise aufwändig restaurierte Bauernhöfe, ein reetgedecktes Nobelrestaurant, dicht hintereinander mehrere Reitställe, etwas zurückgesetzt und von der Straße aus nur durch die Einfahrten mit den protzigen Luxuslimousinen erkennbar, fanden sich die Villen der durch Landverkäufe reich gewordenen Bauernsöhne oderirgendwelcher Rechtsanwälte, Zahnärzte, Architekten. Auch ein mittlerweile schon wieder bedeutungsloser Rockmusiker hatte sich bei den Reichen und Schönen angesiedelt, die ihre kostbare Freizeit zwischen Lions-Club und Hubertus-Jagd aufteilen mussten.
Erst hinter Großburgwedel kamen dann wieder nur Pferdewiesen und ab und zu ein Waldstück, vor den Schlagbäumen der Forstwege parkten die durch rote Vorhänge oder blinkende Herzen gekennzeichneten Campingautos der mobilen Nutten. Schon lange wollte Tabori mal wissen, wie viele der Frauen sich womöglich aus den feinen Adressen der neureichen Dorfbewohner rekrutierten und nur die Zeit zwischen dem Zur-Schule-Bringen und Von-der-Schule-Abholen der Kinder nutzten, um heimlich die Haushaltskasse ein bisschen aufzubessern. Oder nicht heimlich, sondern mit vollem Wissen der börsenkrisen-gestressten Ehegatten.
Die Hundeschule war auf einem stillgelegten Zechengelände kurz vor Bennemühlen untergebracht. Angeblich waren die ehemaligen Stollen viele Jahre vom Vorbesitzer – einem Abbruchunternehmen – genutzt worden, um sich auf elegante und kostensparende Weise hochgiftigen Bauschutts zu entledigen, dem Land war das egal gewesen, das weitläufige Gelände bot die notwendige Infrastruktur und der Abbruchunternehmer war nur zu gerne bereit, für seine nie genehmigte Altlasten-Deponie statt der längst überfälligen Anzeige eine schöne Stange Geld zu kassieren. Angeblich hatte sich die Kaufsumme sogar deutlich über dem in der Gegend üblichen Quadratmeterpreis bewegt, angeblich war der für den Ankauf verantwortliche Amtsleiter auch Mitglied im gleichen Reitverein wie der Abbruchunternehmer.
Jetzt waren in der ehemaligen Zechenbesitzer-Villa die Büros der Einsatzleitung und die Kantine untergebracht, die beiden früheren
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