Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
unseren Knien und Ellenbogen haben, in den Erinnerungen, die an die Oberfläche kommen, wenn wir schlafen. Ich glaube nicht, dass man wirklich weggehen kann.«
Er setzte zu einer Antwort an, doch bevor er sprechen konnte, meldete sich Madelaines Pieper. Es war eine Nachricht von Allenford. Sie griff sofort nach dem Telefon neben dem Bett und wählte die vierstellige Nummer.
Chris nahm beim ersten Läuten ab. »Allenford.«
»Hi, Chris«, sagte Madelaine. »Was gibt's?«
»DeMarco. Ich glaube, wir haben ein Herz.«
Angel hatte geglaubt zu wissen, was Angst sei. Er hatte die schwitzenden Handflächen gekannt, den Klumpen in der Magengrube, der bei jedem Atemzug schwerer wurde, den metallischen Geschmack auf der Zunge. Einmal hatte er fast eine Überdosis Drogen genommen, aber selbst das - in der Notaufnahme aufzuwachen, wo ihn ein Dutzend Gesichter anstarrten -, selbst das war nichts im Vergleich zu dem hier.
Angst war ein lebendes, atmendes Ding in ihm, zerrte an seiner Haut, troff mit faulig riechenden, salzigen Schweißperlen aus seiner Haut.
Er schloss die Augen und wusste sofort, dass dies ein Fehler war. Die Bilder waren da, warteten wie makabre Geister in der Dunkelheit - der Unfall, der ihm Leben bringen würde, der »Spender«, der niemals wieder seine Augen öffnen würde, niemals wieder seine Frau anlächeln oder seine Kinder umarmen würde. Er sah Blut - sein Blut, das des Spenders, und wie sich beides miteinander vermischte ...
Er drehte sich leicht in dem schmalen Bett, krallte seine Hände den Fängen eines Raubvogels gleich um die warmen metallenen Gitterstäbe. Ein Stöhnen stieg in seiner Kehle auf und kam als ein Seufzen heraus. Er öffnete langsam die Augen und starrte blicklos geradeaus, bis die weiße Decke mit dem silbernen Neonlicht verschmolz.
Er wollte beten, musste beten, aber es war zu lange her, und er wusste, dass niemand zuhören würde. Oh, er wusste, dass er bei einem Priester um Absolution bitten konnte, tatsächlich ja bei seinem eigenen Bruder, aber das war zu leicht, zu einfach. Er konnte nicht an einen Gott glauben, der so verzeihend war. Er wusste, dass er es verdient hatte zu leiden.
Und er litt. Gott im Himmel, er hatte noch nie in seinem Leben solche Angst gehabt.
»Angel?«
Er hörte Madelaines heisere Stimme und für einen Sekundenbruchteil erinnerte er sich an alles, an jede Sekunde, die sie zusammen gewesen waren, jede Berührung, die sie geteilt hatten. Die Erinnerungen brachten ein schmerzendes, bittersüßes Gefühl von Verlust mit sich. Er überlegte plötzlich, wie es gewesen wäre, wenn er diesen Weg nicht gegangen wäre, das Leben gelebt hätte, vor dem er davongelaufen war.
Langsam und voller Schmerzen drehte er seinen Kopf zu ihr, um sie anzusehen.
Sie stand selbstsicher in der Tür. Eine schmale, blasse Hand schwebte zögernd über dem Türknopf. Wie immer stand sie perfekt aufrecht da, das Kinn ein wenig angehoben, das Haar in honigbraunen Locken sorgfältig gekämmt.
Er wollte sie frech anlächeln, als ob alles dies unwichtig sei, und er versuchte es. »Hallo, Doc.«
»Hallo, Angel. Bist du bereit?«
Er starrte sie so intensiv an, dass es eine Sekunde dauerte, bis er ihre Worte verinnerlicht hatte. Als es so weit war, trafen sie ihn mit der Wucht eines Schlages. »Bereit?«, flüsterte er. Er wusste, wie jämmerlich er klang. Da lag er nun, vom Kinn bis zu den Knöcheln rasiert, die Haut verfärbt durch antiseptische Lösung, die Adern durchsetzt von intravenösen Nadeln, das Haar mit einer Papiermütze bedeckt.
Er würde sterben, hier und jetzt, mit aufgeschnittener Brust, und sein Herz würde seine letzten schwachen Schläge in den behandschuhten Händen eines anderen Mannes machen.
Madelaine ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und trat leise an sein Bett, setzte sich neben ihn. »Doktor Allenford ist auf dem Weg nach Tacoma, um das Spenderherz zu untersuchen. « Spenderherz.
Die Worte hallten wider und wider in seinem Schädel, echo- N ten, echoten. Ein Herz herausgeschnitten, ein anderes eingenäht.
»Ich weiß nicht, ob ich das kann, Madelaine«, sagte er leise.
Sie beugte sich zu ihm und ihre Berührung seiner feuchten Wange war kühl und tröstend. »Du hast nie genug an dich geglaubt«, sagte sie mit einem Lächeln, das so schnell kam und ging, dass er sich fragte, ob er es sich nur eingebildet hatte.
Er stieß ein Lachen aus, das in einem rasselnden Husten endete. »Wenn man so rumliegt und aufs Sterben wartet,
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