Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
Street sprang von Rot auf Grün und Gelb. Bunte Regenschirme bewegten sich über die rutschigen Bürgersteige, verwoben sich mit- und lösten sich voneinander. Autos fuhren an und hielten und bogen um Ecken, verschwanden unter den grünen Baldachinen der Bäume in der Nachbarschaft.
Das Leben ging weiter.
Aber nicht für Madelaine. Selbst jetzt, als sie dort stand, auf all die Dinge blickte, die sie Millionen Mal schon gesehen hatte, sah sie die Dinge, die sie nie zuvor gesehen hatte. Sie bemerkte, wie die Tauben, die auf dem Fenstersims hockten, aneinander klebten, leise miteinander gurrten. Wie die Blätter, die so oft von den Bäumen geweht wurden und am Glas hängen blieben, von Farben durchdrungen waren - rot, gold, grün und braun -, wie das Sonnenlicht mit einem Speer buttergelben Lichtes die Wolken durchbrechen konnte, der aus dem Himmel selbst zu fallen schien.
Sie wandte sich langsam vom Fenster ab und trat an das Bett.
Angel lag still wie der Tod da, die Haut aschfahl, die Lippen kreideweiß. Er atmete - endlich - ohne die Hilfe eines Beatmungsgerätes. Neben ihm klickte der Kardiograph, spuckte Sekunde um Sekunde einen Bericht über das Herz aus, das versagte.
Versagte. Versagt hatte.
Sie riss den schmalen Endlospapierstreifen heraus und betrachtete die grafische Analyse seines Herzschlages, beugte sich dann über ihn und strich ihm das feuchte Haar aus der Stirn. Ihre Finger verweilten auf seiner warmen, verschwitzten Haut. Komm, Angel. Komm schon.
Seine Augenlider flatterten, aber er erwachte nicht.
Sie legte eine Hand auf die Seite seines Gesichts und schloss ihre Augen. Leise, wie auf Zehenspitzen, kamen die Erinnerungen. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie Angel DeMarco kennen gelernt hatte. Die scheue freiwillige Schwesternhelferin und der junge Rebell.
An diesem ersten Tag hatte sie ihm nichts bedeutet. Das hatte sie natürlich gewusst. Sie konnte die Falschheit in seinem Lächeln sehen. So, wie es war, nur eine Spur zu berechnend, um wirklich herzlich zu sein.
Ja, sie hatte von Anfang an gesehen, dass es eine Lüge war, aber es war ihr egal gewesen. Selbst ein falsches Lächeln war so viel mehr als das, was sie gewöhnt war, und wenn sie die Augen schloss und nur seinen Worten lauschte, war das alles so schmerzlich süß ...
Im Lauf der Zeit hatte sie begriffen, was in diesem Augenblick geschehen war, als er sie zum ersten Mal angelächelt hatte. Sie war hoffnungslos einsam gewesen und ihr war nie der Gedanke gekommen, dass jemand sie mit aufrichtiger Zuneigung anlächeln würde. Ihr Vater hatte ihre zerbrechliche Mädchenselbstachtung so sehr zerstört, dass sie viel zu wenig erwartete.
Angel war zu ihr gekommen, als sie innerlich leer war, war zu ihr gekommen und hatte die Hand ausgestreckt und geflüstert: »Komm mit mir...«
Selbst jetzt noch, all diese vielen Jahre später, war die Erinnerung wie ein elektrischer Strom. Sie hatte Angst davor gehabt, die Hand auszustrecken, aber noch mehr Angst, es nicht zu tun, und so stand sie da, gelähmt von ihrer eigenen Unfähigkeit, sich zu entscheiden.
Komm mit mir...
Als er es das zweite Mal gesagt hatte, war es wie ein Geschenk gewesen. Sie hatte gespürt, wie ihr heiß wurde, dann kalt. Worte stiegen in ihrer Kehle auf und kamen heraus, unausgesprochen, in einem kichernden Lachen.
Sie wusste, dass er sich daraufhin angewidert von ihr abwenden würde und mit demselben Wind aus ihrem Leben verschwinden würde, der ihn gebracht hatte, und die Panik dieser Erkenntnis ließ das Herz in ihrer Brust hämmern und ihre Kehle trocken werden. Aber er bewegte sich nicht. Er stand einfach dort und hielt ihr seine Hand ausgestreckt entgegen. Er sah sie an, sah sie diesmal wirklich an, und für einen Sekundenbruchteil verschwand sein falsches Lächeln und ein echtes trat an seine Stelle. Damals wusste sie, in diesem Augenblick, dass sie alles tun würde - alles -, um wieder so von ihm angelächelt zu werden ...
Angel hustete und das Geräusch erweckte Madelaines Aufmerksamkeit. Sie schaute zu ihm.
Er blinzelte, hustete wieder. Sie wartete darauf, dass er erwachte, aber als er das nicht tat, zog sie einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn, las ruhig und laut eine Passage aus Der kleine Hobbit, in dem sie vor einer Stunde zu lesen begonnen hatte.
Mitten im zweiten Kapitel öffnete er die Augen. Sie wartete, bemerkte nicht einmal, dass sie den Atem anhielt. Sie schloss das Buch und legte es auf den Nachttisch.
»Ich werde sterben, nicht
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