Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
der richtige Zeitpunkt für Heulen und Zähneklappern. George hatte sich von Paul mit dem Versprechen auf eine warme Mahlzeit zu einigen weiteren Arbeitsstunden überreden lassen. Jack hatte die passenden, Hunger bekundenden Geräusche beigesteuert, bis George endlich widerstrebend eingewilligt hatte.
Der große, schwarze Wagen wurde ein kurzes Stück vor den Jungs langsamer. Das Fenster senkte sich, und Audreys Stimme hallte über die Straße. »Ach, du meine Güte! Schande, sieh dir diese Kinder an! Die Jungs sind ja hinreißend. Was macht ihr denn da?«
»Wir verteilen Flugblätter«, sagte der kleinere.
»Für ein Schulprojekt?«
»Wir gehen nicht zur Schule«, antwortete der ältere Junge.
»Wie dumm von euch. Wie könnt ihr nicht zur Schule gehen? Was sagen denn eure Eltern dazu?«
Der Große zuckte die Achseln. »Wir haben keine Eltern.«
»Dann seid ihr Waisenkinder? Oh mein Gott! Schatz, gib den beiden etwas Geld.«
Kaldars Antwort klang schroff. Audrey streckte eine Hand aus dem Seitenfenster und gab jedem der beiden einen Zwanzigdollarschein.
Daraufhin ließen die anderen Kinder ihre Kundschaft stehen und liefen schnurstracks auf den Wagen zu. George packte Jack bei der Schulter. »Die Frau da verteilt Geld. Komm!« Sie liefen zum Auto.
»Wir haben keine Eltern.« Der Kleinere am Fenster zog bekräftigend den Rotz hoch. »Wir verteilen die Zettel für die Kirche und kriegen dafür was zu essen.«
»Was? Wer ist dafür verantwortlich?«
Mehrere Hände deuteten auf Paul, der die Szene mit Argusaugen beobachtete. »Der da!«
»Der widerliche Kerl zwingt euch, für euer Essen zu arbeiten ?«
Kopfnicken.
Die Autotür ging auf, und Audrey trat auf den Asphalt. Sie trug alberne rosafarbene Klamotten, ihre Haare glänzten und saßen fest wie ein Helm. Ihre Handtasche hatte sie sich unter den Arm geklemmt. »Das werden wir ja sehen. Hey, Sie!« Sie zeigte auf Paul. »Ja, Sie, da drüben. Wie können Sie es wagen, diese Kinder auszubeuten?«
Paul hob die Arme. »Nein, Ma’am, hören Sie, es ist nicht so, wie Sie denken.«
Da ging die andere Autotür auf, und Kaldar stieg aus. So wie jetzt sah er aus, wenn er zu Rose Cliff ging. Er trug einen Anzug und hatte die Haare zurückgekämmt.
Audrey stemmte die Hände in die Seiten. »Nun, wie ist es denn?«
»Was?«
»Na, das hier.«
Kaldar kam zu ihnen und machte dabei dasselbe Gesicht wie Rose, wenn Jack sich die Füße nicht abgestreift hatte und Blut und Dreck über die Teppiche verteilte
Paul blinzelte wieder. »Schauen Sie, Sie verstehen das falsch. Wir wollen den Kindern helfen.«
»Indem sie für ihre Mahlzeiten arbeiten müssen? Ich sage Ihnen mal was, Mister, die Sklaverei wurde in diesem Land 1819 mit der Immunisierungsproklamation abgeschafft«, verkündete Audrey.
»Sie meinen Emanzipation, und 1863 …«, murmelte Paul lau.
Hinter Audrey schüttelte Kaldar den Kopf.
»Versuchen Sie nicht, mich aus dem Konzept zu bringen! Sie beuten diese Jungen als Arbeitssklaven aus. Womöglich müssen sie als Nächstes für Sie Baumwolle pflücken.«
»Äh …«
»Nun, ich sage Ihnen, dass diese Kinder heute Abend nicht mehr arbeiten müssen.« Audrey betrachtete die Kinder. »Wer will mit zu McDonald’s?«
Jack hob mit allen anderen die Hand und schrie: »Ich, ich, ich!«
Audrey fuhr zu Kaldar herum. »Schatz?«
Kaldar seufzte, klappte seine Brieftasche auf, entnahm ihr ein dickes Geldbündel und drückte es Audrey in die Hand, die damit herumwedelte. »Also los, Kinder! Ich habe um die Ecke einen Mac gesehen.«
Sie marschierte die Straße hinab, und alle folgten ihr.
»Moment …«, rief Paul. »Das dürfen Sie nicht!«
»Glauben Sie mir«, erklärte ihm Kaldar. »Man stellt sich ihr besser nicht in den Weg, wenn Sie so ist. Kommen Sie, ich spendiere Ihnen eine Tasse Kaffee.«
Kaldar ging neben Paul durch die auf Hochglanz polierte Halle der Kirche der Gesegneten und tat, als er würde er der Leier des Mannes über das Camp und die Ausreißer lauschen, während er in Wahrheit Audrey und die Kinderschar vor ihnen im Auge behielt. Nach dem Besuch bei McDonald’s hatte Audrey darauf bestanden, sich den Schlafplatz der »armen Jungen« anzuschauen. Dem Klang ihrer Stimme nach schien sie damit zu rechnen, dass sie in irgendeiner Zelle an die Wand gekettet wurden, was ihren Anführer in endlose Bedrängnis stürzte. Paul war ein wahrer Gläubiger, ein ehrlicher, harter Arbeiter, der den Kindern wirklich helfen wollte.
»Sehen Sie, die
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