Leuchtende Sonne weites Land - Roman
köstlicher englischer Tee serviert wurde.
Philip hatte für sich die ideale Lösung gefunden: Er wohnte in einem Paradies in den Bergen und doch nahe genug an der Stadt, dass er täglich in sein Geschäft fahren konnte. Er hatte sich darauf gefreut, dieses Leben mit seinem Bruder zu teilen, doch Henry schien gar nicht erfreut, ihn zu sehen.
Henry bekam den Schock seines Lebens. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, als er aufsprang und stotterte: »Ph… Ph… Ph… Philip!«
»Jawohl, höchstpersönlich!«, rief Philip leutselig aus. Er schüttelte Henrys schlaffe, schweißnasse Hand und klopfte ihm kräftig auf den Rücken. »Die Haare sind weniger geworden, der Bauch dicker. Lass dich ansehen! Gut siehst du aus, kleiner Bruder, wirklich gut!«
Philip war kleiner und weniger durchtrainiert, als Henry ihn in Erinnerung hatte, aber er sah gesund und glücklich aus. Ruth stand hinter ihm. Als Henry sie das letzte Mal gesehen hatte, waren die beiden frisch verheiratet gewesen. Ruth hatte ein paar Pfund zugenommen, und ihre Haare waren heller, aber ihr Lächeln war noch so herzlich wie damals. Jetzt jedoch heftete sich ihr scharfer Blick auf Verity und deren Familie.
Auch Philip musterte die blonde Frau an Henrys Seite. Sie schien ihm noch sehr jung, er hatte sich Henrys Frau älter vorgestellt. »Guten Tag«, sagte er in das verlegene Schweigen hinein. »Ich bin Philip, Henrys Bruder, und das ist meine Frau Ruth.«
Er streifte erst Johnny, dann Ron und Maxine Darcy mit einem kurzen Blick. Der Junge, dessen Gesicht so hochrot war wie der künstliche Weihnachtsstern auf dem Tisch, hampelte auf seinem Stuhl herum. Ron und Maxine blickten erschrocken drein. Hätte noch ein weiterer Stuhl am Tisch gestanden, auf dem es dank Johnny ziemlich wüst aussah, hätte Philip angenommen, dass sein Bruder und Jacqueline sich zu anderen Hotelgästen gesetzt hatten. Doch das war nicht der Fall. Wer also waren diese Leute, und zu wem gehörte das Kind?
Verity, Ron und Maxine sahen erst Philip, dann Henry an. Dieser war von der unverhofften Begegnung so schockiert, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.
»Guten Abend«, murmelte Verity leicht verdrossen. Henry hatte ihr zwar erklärt, dass er seinen Bruder noch nicht ins Vertrauen gezogen hatte, aber sein Zögern wurmte sie dennoch. Warum trat er nicht selbstsicherer auf? War es ihm so wichtig, was sein Bruder von ihm dachte?
»Willkommen in Melbourne, Jacqueline«, sagte Ruth und lächelte zaghaft. »Ich habe mich so darauf gefreut, dich endlich kennen zu lernen.«
Sie kannte Jacqueline nur von den Hochzeitsfotos, die Henry ihnen seinerzeit geschickt hatte – die attraktive Brünette, die daraufzu sehen war, strahlte Anmut, Charme und Eleganz aus. Die Blondine hier am Tisch hätte genauso gut Kellnerin in irgendeiner Kneipe in einem Arbeiterviertel von Melbourne sein können.
»Oh … äh … ich … äh … bin nicht …«, stotterte Verity und sah Henry Hilfe suchend an. Erwartete er von ihr, dass sie sich als Jacqueline ausgab?
Henry holte tief Luft und nahm all seinen Mut zusammen. Es half nichts, früher oder später würde die Wahrheit doch ans Licht kommen. »Philip, Ruth, ich möchte euch Verity vorstellen. Ron und Maxine, ihre Eltern. Und der junge Mann hier ist Johnny, Veritys Sohn.«
Der Junge jammerte inzwischen in einer Lautstärke, dass die anderen Gäste alle böse zu ihnen hersahen. Verity achtete jedoch nicht auf ihren Sohn. Sie wartete immer noch darauf, dass Henry sie als die neue Frau in seinem Leben vorstellte.
Eine Sekunde lang waren Philip und Ruth verwirrt, dann zeigte sich Erleichterung auf ihren Gesichtern. »Guten Abend«, sagten sie wie aus einem Munde.
»Entschuldigen Sie«, wandte sich Philip an Verity. »Wir dachten, Sie seien Jacqueline, Henrys Frau.« Er war heilfroh, dass Jacqueline nichts von dieser Verwechslung mitbekommen hatte. Für sie könnte das unmöglich ein Kompliment sein.
Verity nahm die offensichtliche Erleichterung der beiden pikiert zur Kenntnis. Ihr künftiger Schwager und ihre künftige Schwägerin waren ein bisschen zu hochnäsig für ihren Geschmack. Sie bezweifelte, dass sie gut mit ihnen auskommen würde.
Philip sah Henry an. »Und Jacqueline? Wo ist sie? Wir haben uns schon so auf sie gefreut.«
Henry lockerte mit einem Finger seinen Hemdkragen und lief rot an. »Sie … äh … ist nicht hier.«
»Wo ist sie denn?«
Ruth blickte sich flüchtig im halb vollen Speisesaal um. Unter den Hotelgästen
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