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Leuchtendes Land

Titel: Leuchtendes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Shaw
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ihren Wildblumen-Sammlungen, toten Wesen, die sie auf Buchseiten geklebt hatten, doch Alice fühlte sich von ihrem gefühllosen Tun abgestoßen. Für sie war das Blumenpressen ebenso abscheulich wie das Sammeln der herrlichen Schmetterlinge, die über den Blüten der Wildblumen tanzten. Die Leute stahlen ihnen ihr kurzes, zerbrechliches Leben und spießten sie auf Pergament. Seit Jahren weigerte sich Alice nun schon, auch nur eine einzige Wildblume zu pflücken, dieser Farbenpracht auch nur einen Tupfer zu rauben. Schließlich waren es keine Gartenblumen, sondern wilde, freie Geschöpfe, die nicht eingefangen und ins Dunkel gesperrt werden durften.
    Oh, ja, das war Lancoorie. Ihr Lancoorie. Und sie hatte noch andere kleine Geheimnisse, die sie mit niemandem teilte. Clem war zu jung, Noah zu beschäftigt gewesen. Außerdem hatte Alice sich immer bemüht, mütterlich zu wirken, hilfsbereit, nicht wie ein albernes Mädchen, obwohl noch viel Kindliches in ihr steckte. Eine geheime Kindlichkeit, die man auch als Romantik bezeichnen könnte.
    Eines Tages – das Haus war noch im Bau gewesen – war sie bei der Pferdetränke einem Känguru begegnet. Sie hatte solche Tiere schon von weitem gesehen, wenn sie querfeldein hüpften, doch noch nie hatte sie einem ausgewachsenen Känguru so nahe gegenübergestanden.
    Das Känguru trank und schaute dann zu ihr hoch, nicht erschreckt, sondern ein wenig neugierig.
    Wie immer, wenn jemand sie anschaute, verbarg Alice ihren verdrehten Fuß, doch eine heftige Kopfbewegung des Kängurus klärte sie darüber auf, dass es dieses Manöver bemerkt hatte. Es starrte sie an, und Alice wurde plötzlich vorwitzig.
    »Wohin starrst du?«, fragte sie kühn. »Du siehst selbst ganz schön komisch aus. Deine Beine sind völlig krumm. Deine Knie stehen nach hinten.«
    Das Känguru blieb ruhig stehen, und auch Alice rührte sich nicht mehr von der Stelle. In diesem Augenblick empfand sie eine unendliche Liebe zu diesem sanftmütigen Tier, das es nicht wagte, die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken. Echte Liebe. Die Welt war so nüchtern, und sie fühlte sich darin so einsam. Alice verlangte es danach, das Tier zu streicheln, es zu liebkosen, doch sie traute sich nicht. Schließlich bewegte sie sich, und das Känguru hüpfte davon.
    Alices Liebe zur Natur hatte ihre Jugend auf Lancoorie geprägt. Sie hatte Hunde, Lämmer, junge Kängurus, Kookaburras und Elstern als Haustiere gehabt. Aber als Noah einmal einen jungen Dingo bei ihr gefunden hatte, hatte er ihn getötet und damit, ohne es zu ahnen, seine Tochter verloren. Und jetzt war er selbst weg, ebenso wie diese dumme Frau. Niemand hatte bemerkt, dass Alice beim Tod ihres Vaters keine Träne vergossen hatte. Als das ältere der beiden Kinder hatte sie schon immer Haltung zeigen müssen. Das wurde einfach von ihr erwartet.
    Hinter der Freundlichkeit der Nachbarinnen, die ihnen in der Not zu Hilfe gekommen waren, verbarg sich auch Mitleid. Die Frauen bedauerten Alice, weil sie glaubten, sie sei aufgrund ihrer Behinderung dazu bestimmt, eine alte Jungfer zu werden. Alice kannte sich aus mit der Aufzucht von Tieren: Um den Bestand zu erhalten, wurden Defekte ausgemerzt. Sie durften nicht weitervererbt werden. Ihre Nachbarn, die Postles, hatten eine ältliche Tante mit zusammengewachsenen Fingern. Selbstverständlich war sie unverheiratet. Die Aborigines, die in kleinen Clans das Land durchwanderten, das einst ihnen gehört hatte, korrigierten die Natur noch weitaus unerbittlicher. Sie töteten missgebildete Babys gleich nach der Geburt. Die alte Sadie, eine Aborigine-Frau, die gelegentlich mit ihrer zusammengewürfelten Sippe das Farmhaus besuchte, hatte mit einem Blick auf Alices Fuß einmal verwundert festgestellt, dass sie überlebt hatte.
    »Herrin hat viele gute Geister, was?«
    »Ja, Sadie. Ich habe viele davon. Pass also besser auf. Mach mich nicht wütend, verstanden?«
    »Nein, Herrin. Keine Angst.«
     
    Obwohl keine Straftäter mehr nach Australien deportiert wurden, gab es immer noch welche, die hier den Rest ihrer Strafe verbüßten. Manche von ihnen saßen im gefürchteten Gefängnis von Fremantle, während die weniger gefährlichen und vertrauenswürdigeren Sträflinge auf Bewährung entlassen wurden und für ausgewählte Arbeitgeber tätig werden durften.
    Dem Antrag von Alice Price, den Mr. Tanner und Dr. Carty als Zeugen unterschrieben hatten, wurde stattgegeben. Und so lieferte Wachtmeister Fearley feierlich zwei Sträflinge auf

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