Lockruf der Highlands: Roman (German Edition)
ließ seine Augen über den Weg schweifen. Einerseits wollte er seine Energie nicht sinnlos auf einem Irrweg vergeuden, andererseits aber auch nicht an einer möglichen Hilfe vorbeilaufen.
Plötzlich schnellte Tigger aus dem Schlitten, sprang hinter ihm in großen Sätzen durch den Schnee und folgte Maxens Spur. »Ich schätze, damit ist alles klar«, murmelte er und machte einen Schritt nach hinten, um nach Camry zu sehen. Sie war nicht mehr so bleich wie vorhin, was ihm die Entscheidung erleichterte, den Hunden zu folgen. Der Pfad führte zum Ufer, und Luke blieb neben Max und Tigger stehen, die beide unverwandt auf den See hinausblickten und dabei so mit dem Schwanz wedelten, dass der Schnee aufstob.
Luke zog sein GPS heraus. Es zeigte ihm an, dass sein derzeitiger Standort noch immer sechzehn Meilen von Winters Haus entfernt war, wenn er den Forstweg nahm. Allein der Gedanke an Rogers Zeilen jagte ihm Schauer über den Rücken; es hatte den Anschein, als hätte er tatsächlich für jeden Schritt nach vorn zwei nach hinten getan.
In vier Stunden lächerliche zwei Meilen!
Wenn er in diesem Tempo weitermachte – eher wohl noch langsamer, da seine Kräfte schon bedenklich nachließen –, würde es Tage dauern, bis sie das Waldgebiet durchquert hatten. Er zoomte die Karte
auf dem Bildschirm heran. Wenn er jetzt jedoch den See diagonal überquerte, waren es bis Pine Creek nur noch sechs Meilen.
Über ebenes Gelände.
Bei Vollmond, der den Weg beschien.
Aber über womöglich dünnes Eis, das er nicht sehen konnte.
Hatte er das Recht zu riskieren, dass Camry ertrank, nur um ihren Fuß zu retten?
Es war gar nicht der Knöchel, der ihm wirklich Sorgen bereitete; viel größer war seine Angst, sie könnte in einen Schockzustand geraten. Wenn er auch nicht viel von Medizin wusste – und von Notfallmedizin schon gar nicht –, so war er doch sicher, dass ein Schock tödlich sein konnte, wenn er nicht rechtzeitig behandelt wurde.
Er trat an den Schlitten, schob die Plane zurück, kniete im Schnee nieder und zog seinen Handschuh aus. Dann umfasste er Camrys Hand. Er blickte zurück, hinaus auf den See. War er imstande, seinen Verstand lange genug auszuschalten, um seinem Herzen zu folgen?
So wie damals vor dreizehn Jahren, als er Kate und Maxine gefunden hatte?
Damals hatte er keine Zeit gehabt, die Risken von Kates Rettung gegen die Gefahr des Ertrinkens abzuwägen. Herrgott, er hatte überhaupt nicht überlegt!
Er hatte instinktiv gehandelt. Sein einziger Gedanke hatte Kates Rettung gegolten, und wenn sie beide ertrunken wären, nun, dann wäre er in dem Bewusstsein in den Tod gegangen, dass sie nicht allein hatte sterben müssen.
Dank eines Wunders hatte keiner von ihnen den Tod gefunden.
Hatte Roger dies gemeint, als er schrieb, Luke hätte bereits einmal in einem Augenblick höchster Not ein Wunder vollbracht?
Von dem Moment an, als er Kates und Maxines Spuren unter dem Baum entdeckte, bis zu dem Zeitpunkt, als er die Eisfläche betrat, hatte ihn tatsächlich das Gefühl beschlichen, die Zeit wäre stehen geblieben. Er hatte den Fluss scheinbar in Sekunden erreicht, obwohl das Wasser über eine Meile entfernt gewesen war; dann hatte er seine Schneeschuhe abgelegt, war zu Kate hinausgekrochen, hatte sie gepackt und in Sicherheit gebracht, indem er sie ans Ufer warf – und das alles ohne das geringste Gefühl von Eile. Seine Handlungen waren weder überhastet noch langsam wie im Zeitlupentempo abgelaufen; die Zeit hatte schlichtweg zu existieren aufgehört.
Weshalb zum Teufel war er jetzt so entschlossen, die Existenz von Wundern abzustreiten?
Denn wenn es sie gab, würde dies bedeuten, dass wirklich ein unbekannter Faktor existierte, der seiner
geliebten Wissenschaft überlegen war, etwas, das er nicht messen oder kontrollieren konnte.
In seiner Jugend war er völlig dem Gefühl ausgeliefert gewesen, nichts unter Kontrolle zu haben – angefangen von seiner zufälligen Empfängnis, seiner Ankunft in der Welt über seine Erziehung durch drei Frauen, die allesamt entschlossen waren, ihn zu bemuttern, bis hin zur Heirat seiner Mutter mit einem Mann, der ebenso entschlossen war, ihm ein Vater zu sein. Er hatte sogar eine kleine Schwester bekommen, die er sich nicht gewünscht hatte.
Vielleicht hatte das wahre Wunder damals am Fluss ja gar nichts mit Kate zu tun gehabt, sondern vielmehr mit der Tatsache, dass er zum ersten Mal im Leben lange genug seinen Egoismus vergessen hatte, um einen anderen
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