Loretta Chase
geregelt seinen Gang. Binnen
Stunden hatte die düstere Festung fast wohnliche Züge angenommen.
Lisle sah
sich um, und er sah: Ruhe und Ordnung. Fast hatte er vergessen, wie herrlich
das war. Das gute Essen hatte ihn in friedfertige Stimmung versetzt, und der
Wein tat ein Übriges. Selbst die Harpyien fand er auf einmal eher unterhaltsam
als enervierend.
Sie waren
betrunken, aber das war ja nichts Neues. Wenigstens waren sie still, denn
Olivia las gerade eine der von Cousin Frederick Dalmay verfassten Geschichten
über Gorewood Castle vor.
In diesen
Geschichten wimmelte es von Geistern. Bisweilen fanden sich auch in die Wände
eingemauerte Leichen – beispielsweise ein im Burgverlies zu Tode gekommener
Verräter, der nun im Bauch der Burg sein Unwesen trieb. Auch das geschwängerte
und ermordete Küchenmädchen durfte nicht fehlen. Anlässlich von Hochzeiten und
Geburten spukte sie im Küchenkorridor herum. Zudem gab es ein Edelfräulein, das
auf der Empore wandelte, wann immer ihm der Sinn danach stand, und einen
Ritter, der an gewissen Festtagen die Kapelle heimsuchte.
Dann
gelangte Olivia zu den Geistern, die sich auf dem Dach herumtrieben.
»'Sieben
Männer, eines heimtückischen Mordes bezichtigt, wurden dazu verurteilt,
gehängt, gestreckt und gevierteilt zu werden'«, las sie vor. »'Lauthals
bekundeten sie ihre Unschuld und verlangten, diese unter Beweis stellen zu
dürfen. Zu aller Überraschung gab Lord Dalmay ihrem Ersuchen nach. Er ließ die
Bösewichte auf das Dach des Südturms bringen und bot ihnen an, ihre Unschuld zu
beweisen, indem sie hinüber auf den Nordturm sprangen. Wem es gelinge, würde
von aller Schuld freigesprochen. Unter Dalmays Gefolgsleuten regte sich
Widerstand. Seine Lordschaft sei zu gütig, hieß es. Niemand würde den Sprung
von einem Turm zum anderen schaffen. Die Mörder würden in die Tiefe stürzen und
wären sofort tot. Für ihre Freveltat hätten sie jedoch einen langsamen und
qualvollen Tod verdient. Aber in Lord Dalmays Reich war sein Wort Gesetz. Und
so traten die Männer der Reihe nach an die Turmzinnen. Einer nach dem anderen
sprang seiner Freiheit entgegen. Und einer nach dem anderen, sechs an der Zahl,
stürzten sie in den Tod.'«
»Sechs?«,
fragte Lisle.
»'Ein Mann
starb nicht'«, las Olivia weiter, »'und Lord Dalmay hielt Wort. Der Mann wurde für
unschuldig erklärt und durfte fortan in Freiheit leben.'«
Lisle
lachte ungläubig. »Der Bursche soll einen Sturz aus dreißig Metern Höhe überlebt
haben?«
»Nein«,
sagte Olivia. »Er hat den Sprung geschafft.«
»Da muss er
aber wundersam lange Beine gehabt haben«, ließ sich Lady Withcote vernehmen.
»Und man
weiß ja, was man über langbeinige Männer sagt«, kicherte Lady Cooper.
»Das waren
nicht die Beine, Agatha«, sagte Lady Withcote. »Das waren die Füße.
Lange Füße,
so sagt man, langer ...«
»Das ist
doch ein Ding der Unmöglichkeit«, fuhr Lisle dazwischen. »Dem Mann müssten
Flügel gewachsen sein.«
»Wie groß
ist denn der Abstand zwischen den beiden Türmen?«, wollte Olivia wissen.
»Vielleicht
könnte ein Mann in sehr guter körperlicher Verfassung es doch schaffen?«
»Es geht
nichts über einen Mann in guter körperlicher Verfassung«, seufzte Lady Cooper
wehmütig.
»Erinnerst
du dich noch an Lord Ardberry?«
»Wie könnte
ich den vergessen?«
Lisle fing
Olivias Blick auf. Ebenso wie er musste sie sich das Lachen verkneifen.
»Er hat
eine Wissenschaft daraus gemacht«, sagte Lady Withcote. »Damals, als er in Indien war.
Irgendein geheimes Buch, meinte er mal.«
»Ich
dachte, es wäre ein heiliges Buch gewesen?«
»Vielleicht
war es ja beides. Deswegen hat er übrigens Sanskrit gelernt.«
»Als ob man
dazu irgend etwas hätte lesen müssen. Du hast ja seine Bildersammlung gesehen.«
»Besser als
tausend Worte, jedes einzelne.«
»Fast so
unterhaltsam wie Eugenias Kupferstiche.«
In Lisles
Vorstellung zogen ein paar Worte so deutlich herauf, als sähe er sie auf ein Blatt
Papier geschrieben vor sich: Geheime Sammlung mit Kupferstich. Olivias aufreizend
durchgestrichene Textstelle.
»Was für
Kupferstiche?«, fragte er.
»Hast du
die denn nie gesehen?«, fragte Lady Cooper. »Ich hätte gedacht, alle kleinen Carsingtons
würden sie früher oder später entdeckt haben. Sehr lehrreich.«
»Genau
genommen bin ich gar kein Car...«
»Also
wirklich, Agatha«, meinte Lady Withcote. »Als ob Lord Lisle Lehrstunden bräuchte.
Der junge Mann ist bald vierundzwanzig
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