Louisiana-Trilogie 1 - Tiefer Süden
jeder Mensch trägt ein schweres Unglück im Herzen, Benny.«
»Wirklich?« fragte er ungläubig.
Sie hielt seinen Kopf an ihrer Brust und streichelte sein seidiges Haar. »Ja, Benny. Auch weiße Leute.«
Es fiel ihm schwer, das zu verstehen, und er erwiderte nichts darauf. Nach einer Weile fuhr sie fort.
»Du mußt dich daran gewöhnen, daß du ein Unglück im Herzen trägst, Benny, denn niemand kann es dir abnehmen. Du bist sogar glücklich daran, daß du es jetzt schon herausgefunden hast, obwohl du noch ein Junge bist, denn von jetzt ab wirst du andere Menschen verstehen, wenn sie sich unglücklich fühlen.«
Benny wartete einige Zeit, bevor er antwortete.
Sie fragte sich, ob sie ihm wohl hatte verständlich machen können, was sie meinte. Wie viele Kinder und auch manche Erwachsenen dachte er wahrscheinlich, daß sie gegen alles Leid der Welt gefeit sei, weil sie nicht denselben Kummer hatte wie er. Schließlich fragte er nachdenklich:
»Haben Sie auch ein solches Unglück im Herzen, Miß Judith?«
»Ja.«
»Und was tun Sie dagegen, Missis?«
»Nichts. Ich kann nichts dagegen tun. Ich bewahre es nur in meinem Herzen. Das mußt du auch tun.«
»Ach«, sagte Benny. Er hob den Kopf und sah sie an. Dann schaute er zu dem großen Haus hinüber, diesem herrlichen Gebäude, in dem die glücklichen Weißen in unvergleichlicher Selbstherrlichkeit und in unvorstellbarem Glück lebten.
»Was macht Sie denn so unglücklich, Missis?« fragte er zweifelnd.
»Wenn man an einem wirklich tiefen Unglück trägt, spricht man nicht gern darüber.«
»Ja, Mäm.« Mit trauriger Genugtuung fügte er hinzu: »Jeder Mensch kann ja sehen, was für ein Unglück ich habe.«
Judith holte kurz Atem. »Aber niemand braucht zu sehen, wie sehr du darunter leidest.«
»Hm.« Benny hatte den Saum ihres Musselinrockes zwischen den Fingern und betrachtete das Blumenmuster im Stoff.
Es war nahezu dunkel geworden. Bald würden die Diener die Schüsseln mit dem Abendessen aus dem Küchenhaus herüberbringen.
»Du gehst jetzt besser, Benny«, sagte sie. »Deine Mutter wird sich schon wundern, wo du bleibst. Komm nicht wieder zum Herrenhaus.«
»Ja, Mäm.« Er stand auf und kratzte mit den Zehen des einen Fußes den anderen.
»Wie geht es deiner Mutter?« fragte Judith ihn leise. Sie brachte die Worte nur mit größter Anstrengung heraus.
»Der geht es sehr gut.«
»Hat sie außer dir noch mehr Kinder?«
»Ja, Mäm.«
»Sage deiner Mutter, daß ich nach ihr gefragt habe.«
»Ja, Mäm.«
»Gute Nacht, Benny.«
»Gute Nacht, Missis.«
Judith sah ihm nach, als er fortging. Sie legte den Arm um den Verandapfosten und stützte die Stirn darauf. Als sie über das nachdachte, was sie ihm gesagt hatte, erschien es ihr nichtssagend und leer. Als ob jemand sich an ein Unglück, das er im Herzen trug, gewöhnen könnte, nur weil er sich entschlossen hatte, es zu tun! Deutlicher als in all den langen Jahren kam ihr jetzt zum Bewußtsein, daß sie sich immer noch nicht an ihr Leid gewöhnt hatte. Sie hoffte, sie würde nie wieder etwas von Benny hören oder sehen.
Ein Neger bog um die Ecke des Hauses. Er nahm den Hut ab, als er näher kam, nahm ihn in beide Hände, stellte einen Fuß hinter den anderen und verneigte sich.
»Missis?«
»Ja?« Sie war aufgestanden, um hineinzugehen, und wandte sich noch einmal um.
»Die weiße Frau, zu der ich die Tücher und Sachen bringen sollen –«
»Ja, was hat sie gesagt?«
»Sie sagen, sie brauchen nichts. Ihr Mädchen sein gestorben.«
»Ach!« rief Judith. Wie schnell doch das Fieber die Kinder dahinraffte!
»Aber ich haben Sachen doch bei ihr gelassen, Missis. Ich denken, daß sie vielleicht doch brauchen, wenn kleine Mädchen zur Beerdigung in ein Tuch einwickeln.«
»Das war recht.« Judith ging ins Haus. Der Gang war dunkel, aber sie sah, daß in den vorderen Zimmern Licht brannte.
Der kleine Philip rief nach ihr. Das brachte sie plötzlich wieder zu sich. Der arme Junge – sie hatte ganz vergessen, daß sie ihn auf sein Zimmer geschickt hatte. Inzwischen war es finster geworden, und er wunderte sich sicher, ob er den ganzen Abend nichts zu essen bekäme und sie sich nicht mehr um ihn kümmerte. Sie eilte in das Speisezimmer, nahm einen Leuchter vom Tisch und ging zu seiner Tür.
»Hier bin ich, Phil. Du kannst wieder herauskommen.«
Sie öffnete die Tür, aber das Zimmer war groß, und die Kerze verbreitete nicht genug Helligkeit, um ihn sofort zu sehen. »Phil, Kind, wo bist
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