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Luegensommer

Titel: Luegensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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draußen. Marit muss sich von ihm den Weg zeigen lassen, da sie Zoé zu Lebzeiten nie besucht hat, obgleich sie einmal eine Einladung zu deren Geburtstag bekommen hatte, kurz nachdem Ansgar und sie ein Paar geworden waren. Damals gab Marit einer anderen Party den Vorzug. Eine verspielte Chance, sich mit Ansgars großer Liebe anzufreunden.
    Sie durchqueren die Küche, ein gusseiserner Herd fällt sofort ins Auge, außerdem stapelweise schmutziges Geschirr, der Tellerberg in der Spüle eine Skulptur für sich. Auf einem schweren Holztisch döst eine getigerte Katze auf übrig gebliebenen Flugblättern, Zoés Foto die wohlbekannte Anklage, daneben stehen eine leere und eine geöffnete Rotweinflasche sowie ein fast volles Glas, das Jespersen im Vorbeigehen mitnimmt. »Ich hatte mir gerade einen Wein aufgemacht«, nuschelt er. Als wäre er ihr eine Erklärung schuldig.
    Marit hütet sich, Jespersen zu verurteilen. Sicher ist er irgendwie eklig. Doch wenn sie diese Flugblätter ständig sehen müsste, würde sie sich höchstwahrscheinlich auch gehen lassen und mittags schon die Kante geben. Sie stellt sich vor, dass Zoés Vater nicht in der Lage ist, die Plakate wegzuwerfen, gerade weil sie ihn quälen, was irgendwie paradox ist und dennoch einen Sinn ergibt.
    Jespersen führt sie eine Holzstiege hinauf. Als die ausgetretenen Stufen unter ihrer beider Gewicht ein lautes Ächzen von sich geben, kommt Marit der Gedanke an Rena Berger in die Quere und sie schaut sich hektisch um. Was, wenn Zoés Mutter plötzlich vor ihnen steht?
    Hardy Jespersen errät ihre Gedanken: »Meine Frau ist nicht zu Hause«, sagt er, nimmt Marit die Angst und bringt damit den liebenswürdigen Aspekt seiner Sentimentalität zum Ausdruck. »Einkaufen. In der Stadt. Wir können uns ja nicht ausschließlich von dem Zeug ernähren, das die Nachbarn vorbeibringen. Wir haben allen Bescheid gesagt, dass wir ab sofort nichts mehr brauchen.«
    »Ich wette, die kommen trotzdem«, sagt Marit. »Allein schon aus Neugier.«
    »Möglich. Aber wir haben beschlossen, niemanden mehr reinzulassen. Du hast ja gesehen, wie es hier aussieht.«
    »Danke, dass ich trotzdem hier sein darf.«
    »Keine Ursache.«
    Dann Zoés Zimmer. Ihr Vater hat genug Vertrauen zu Marit, um sie allein zu lassen. Vielleicht ist es ihm auch bloß zu heiß hier oben. Ein winziger Raum unter dem Dach, eine richtige Mansarde, sehr hell und von der Sonne aufgeheizt wie eine Sauna. Jede Regung bringt die Staubkörner in der Luft zum Tanzen.
    Marit lässt ihren Blick über die unvermeidlichen Poster auf der Dachschräge gleiten: Audrey Hepburn, einige Rapstars, die sie nicht mag, das düstere Konzertplakat einer norwegischen Band, die sie nicht kennt. Genau über dem Kopfende des schmalen Betts ist eine vergrößerte Fotografie angebracht, Kunst, ein kreisrundes, bizarres Muster in Weiß, Schwarz und einem kreischenden Rot. Als sie näher rangeht, erkennt Marit, dass es sich um den wolligen Hals eines Schafs handelt, einen Hals ohne Kopf und von oben betrachtet, und dass das Rote frisches Blut ist. Zoé muss bei einer Schlachtung dabei gewesen sein. Mit Kamera.
    »Boah, ist das krank«, sagt Marit und schlägt die Hand vor den Mund. Sie fragt sich, wie viele Stunden ihr Bruder in diesem Raum verbracht hat, die bildschöne Zoé und er eng umschlungen, während über ihren Köpfen das arme Vieh ausblutet. Gemütlich.
    Marit wendet sich ruckartig ab, um die Vorstellung abzuschütteln. Das geht sie alles nichts an. Sie muss loslegen. Also: Bücher, damit Jespersen nicht misstrauisch wird. Anscheinend hat Zoé gern gelesen – eine erste, winzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen –, es gibt nur ein schmales Ikea-Regal, und das quillt über, außerdem einen Stapel auf der Fensterbank, weitere auf der Kommode. Marit braucht eine Weile, bis sie die Bücher entdeckt, die sie Herrn Jespersen genannt hat, und das Gefühl, Zeit zu vergeuden, macht sie nervös. Zumal sie eigentlich etwas ganz anderes finden will: Fingerzeige der Wahrheit. Vage Spuren des Täters. Dafür, so ihre Überlegung, muss sie zunächst einmal mehr über das Opfer erfahren. Hätte sie Zoé besser gekannt, würde sie sich ihr hier vermutlich nahe fühlen, inmitten all dieser persönlichen Sachen, wo es schwach nach ihrem Parfüm riecht und noch schwächer nach Haschisch. Vielleicht ist Letzteres auch bloß eine Unterstellung, weil Marit von einem Mädchen wie Zoé erwartet, sich hin und wieder auf ihrem Bett zu bekiffen.
    Sie durchsucht die

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