Luftkurmord
der Fremdenführer
auf dem Boot fasziniert. Mühelos wechselte er während der Fahrt durch die
Grachten durch vier Sprachen, ohne nur ein einziges Mal zu zögern oder zu
stottern. Das wollte sie auch können und später als Reiseführerin durch die
Welt kommen. Hans wollte das nicht. Hans wollte Latein wählen, weil es ihr
leichter erschien und nicht so mühsam. »Das schaffen wir beide schon«, hatte
sie gemeint und Erich angegrinst. Aber Erich wollte kein Latein lernen. Das
musste Hans einsehen. Deswegen war sie auf dem Weg zu ihr.
Die
Kirchturmuhr schlug Viertel nach neun. In einer halben Stunde fing die
Sonntagsmesse an. Hans’ Familie ging jeden Sonntag zur Kirche. Ihre Mutter
teilte sogar die Kommunion mit aus. Erich hatte es sich genau überlegt. Sie
wollte bei Hans sein, kurz bevor sie in die Kirche gehen musste. So hätte sie
zwar nur wenig Zeit, um zu sagen, was sie sagen wollte, aber, und das war viel
wichtiger, Hans hätte nur wenig Zeit, sich darüber aufzuregen. Sie sah auf.
Hinter der nächsten Kurve kam die Straße, in der Hans mit ihrer Familie wohnte.
Sie fuhr langsamer, bog um die Ecke und schloss ihr Fahrrad mit klopfendem
Herzen am Zaun vor dem Haus an.
»Es
ist Sonntag.« Hans’ Mutter bedachte Erich mit einem strengen Blick, als sie ihr
die Tür öffnete.
»Tut
mir leid.« Erich nahm all ihren Mut zusammen. »Es geht um die Schule. Es ist
wichtig.«
»Zehn
Minuten. Nicht mehr. Wir müssen gleich los.«
Erich
nickte, huschte die Treppe zu Hans’ Zimmer hinauf und klopfte gegen die Tür.
»Was?«
»Ich
bin es.« Sie drückte die Klinke herunter. »Ich muss dir was sagen.« Das Holz
der Tür schabte über den Teppichboden.
»Ach
du.« Hans ließ sich wieder auf ihr Bett plumpsen. Sie trug schon ihren, wie sie
es nannte, Kirchenrock. Dunkelblau und die Knie bedeckend. »Was willst du? Ich
hab nicht viel Zeit.«
»Ich
weiß.« Erich schloss die Tür hinter sich und lehnte sich an das Türblatt. »Ich
mache Französisch nach den Ferien«, platzte sie heraus, ohne an die Sachen zu
denken, die sie sich zurechtgelegt hatte. Hans hob den Blick, musterte sie und
schüttelte dann den Kopf.
»Das
geht nicht.«
Erich
schwieg. Sie sog das Innere ihrer Wange zwischen die Zähne und biss fest zu.
»Das
geht nicht«, wiederholte Hans. »Ich mache schon so viele Fehler, wenn ich in
Deutsch schreibe. In Französisch würde ich das nie hinbekommen!«
»Du
musst ja auch kein Französisch machen. Du kannst Latein machen.«
Hans
stand auf, ging zu ihrem Kleiderschrank und holte eine weiße, steif gebügelte
Bluse heraus. Sie zog sie an und begann, sie zuzuknöpfen. Erst langsam, dann
immer heftiger und schneller. Den untersten Knopf riss sie einfach ab, stopfte
die Bluse in den Rock und atmete tief ein.
»Das
ist so scheiße von dir. Ich dachte, du wärst meine Freundin und wir würden uns
helfen«, schrie sie und trat gegen die Schranktür. »Aber das war ja klar, dass
du mich im Stich lässt, du blöde Kuh!«
»Ich
lasse dich nicht im Stich. Es ist doch nur in dem einen Fach. Und Franz …«
»Vergiss
Franz! Die ist doch genauso eine blöde Kuh wie du.« Sie schlug mit der flachen
Hand gegen die Wand. »Ihr seid einfach …«
»Was
geht denn hier vor?« Hans’ Mutter stand in der geöffneten Tür und runzelte die
Stirn. »Ich habe Streit und Geschrei gehört.«
Hans
erstarrte in der Bewegung, fiel in sich zusammen und ließ die Arme sinken.
Hans’
Mutter sah Erich an. Ihre Stimme klang ruhig. »Wir schreien nicht. In diesem
Haus gibt es keinen Streit. Bei uns ist man nicht aggressiv.« Erich öffnete den
Mund, kam aber nicht zu einer Antwort. »Seid ihr fertig mit eurem Gespräch? Die
Kirche wartet.« Sie nickte und ging durch den Flur zur Treppe, ohne die Tür zu
schließen.
»Ja,
Mama.« Hans ballte die Fäuste und senkte den Kopf. »Jetzt ist sie sauer«,
zischte sie, als ihre Mutter außer Hörweite war. »Ich mache es ihr eh nie
recht. Und dann kommst auch noch du am Sonntag und machst hier den Aufstand.«
Sie bückte sich nach ihren Schuhen.
»Es
tut mir leid, wenn du wegen mir Ärger bekommst.«
Hans
brummte etwas Unverständliches, während sie ihren Schnürsenkel zuband.
»Ich
kann ja noch mal darüber nachdenken«, sagte Erich leise.
»Das
würdest du für mich tun?« Hans strahlte sie an. »Du bist die beste Freundin,
die ich habe!« Sie umarmte Erich. »Ich hab doch gesagt, das schaffen wir beide
schon.«
***
Die Türglocke
schallte durch den Hausflur. Ich trat einen
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